Robert Schmidt

Freier Journalist, Straßburg

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Knast-Studentin Sevimli: Das viel zu lange Erasmus-Semester

In Frankreich wissen viele Menschen, wer Sevil Sevimli ist. In ihrer Heimatstadt Belleville bei Lyon kennt die 21-jährige Studentin jeder. Das Fernsehen hat sie zur franko-türkischen Heldin gemacht, auch Radio und Tageszeitungen haben berichtet.

Sevil ist berühmt. Drei Monate saß sie unter Terrorverdacht in Untersuchungshaft, vergangene Woche wurde sie wegen "terroristischer Aktivitäten" zu gut fünf Jahren Gefängnis verurteilt, durfte aber auf Kaution vorerst heim nach Frankreich. Nun, beim Treffen im Vereinshaus des türkisch-armenisch-kurdischen Freundschaftsvereins, ist Sevil einfach ein junges Mitglied, das freundlich mit allen plaudert.

So friedlich wie Türken, Kurden und Armenier hier beisammen sitzen, sieht man es in der Türkei wohl selten. Rund hundert Freunde und Verwandte essen Döner, trinken Ayran, und als Sevil kommt, klatscht niemand, niemand steht auf. Die Lyoner Studentin dreht eine Runde durch den Saal, begrüßt alle einzeln und typisch französisch mit Küsschen und Umarmung.

Am Mittwoch erst war sie in Frankreich gelandet, am Flughafen warteten Freunde, Verwandte und Unterstützer, viele trugen T-Shirts mit ihrem Foto. Nach einem kurzen Interview mit einem Lokalsender tauchte sie erst einmal ab. Im Freundschaftsverein in Belleville läuft noch mal das Video, währenddessen steht Sevil in einem Grüppchen aus Vereinsvorstand und ihrer Familie, alle anderen sitzen.

"Warum könnte das mich betreffen? Ich bin doch nur ein Jahr da"

Als die verlorene Tochter im Video dem Vater in die Arme fällt, wird zum ersten Mal geklatscht, denn nicht nur ihre Familie, auch viele Vereinsmitglieder haben für sie Stimmung gemacht. Die Rückkehr ist auch ihr Erfolg. Danach bedankt Sevil sich auf Türkisch bei den Unterstützern, die noch einmal frenetisch klatschen.

Ihre Geschichte hat die Studentin der Kommunikationswissenschaften an der Universität Lyon 2 schon früher erzählt. Im vergangenen Studienjahr ging sie für einen Erasmus-Aufenthalt ins türkische Eskisehir, ins Land ihrer Eltern, die als kurdische Einwanderer nach Frankreich kamen. In der Türkei nahm Sevil, damals 20, an einer Mai-Demo teil, klebte Plakate für Bildungsfreiheit. Sie besuchte ein Konzert einer linksalternativen Band und sah einen regierungskritischen Dokumentarfilm. Was linke Studenten in Europa eben machen, meist völlig ohne Folgen.

Aber die Türkei ist anders: 750 Studenten wurden in den vergangenen drei Jahren wegen "terroristischer Aktivitäten" verhaftet. Als Rechtsgrundlage diente das türkische Anti-Terror-Gesetz. Wegen harscher Kritik an den oft willkürlichen Verhaftungen sind die zuständigen Sondergerichte zwar inzwischen aufgelöst, solange noch Verfahren wie das von Sevil laufen, arbeiten sie aber weiter.

Sevil Sevimli sagt, davon habe sie vor ihrer Abreise in die Türkei nichts gewusst. Sie habe zwar von Verhaftungen gehört, aber sich dann gesagt: "Warum könnte das mich betreffen? Ich bin doch nur ein Jahr da." Ein paar Tage nach der Mai-Demonstration stürmten früh am Morgen 20 Polizisten ihre Wohnung. "Sie schmissen alles zu Boden und beschlagnahmten meinen Computer. Sie fragten, ob ich eine Linksextremistin sei." Die Polizisten brachten Sevil aufs Revier, nahmen ihre Fingerabdrücke: "Sie schlugen mich auf die Beine, zogen mich an den Haaren."

Mitstudenten sitzen weiter in Haft

Der Vorwurf des Staatsanwalts lautete Anführung einer terroristischen Vereinigung, darauf stehen in der Türkei bis zu 32 Jahre Gefängnis. Drei Monate saß Sevil in Untersuchungshaft, weitere sechs Monate durfte sie das Land nicht verlassen. Sie lebte bei der Familie im südtürkischen Adana und blieb auf Anraten ihrer Mutter die meiste Zeit zu Hause. "Auch das fühlte sich an wie Gefängnis." Sevil möchte den Eindruck erwecken, dass ihr das alles nichts ausmacht. Aber sie sagt auch: "Überall war Beton, alles war beschränkt."

Als die Richter Mitte Februar ihr Urteil sprachen - fünf Jahre und zwei Monate Haft -, ließen sie der unbequemen Studentin ein Schlupfloch offen: Eine Ausreise gegen Kaution war möglich. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Sevils Anwalt wird in Berufung gehen. "Die verhaften doch keine Terroristen, sondern jeden, der es wagt, seine Stimme zu erheben", sagt Sevil. Der Staat sperre Andersdenkende systematisch ein. "Jedes Jahr im Mai gibt es eine Verhaftungswelle von Studenten, erst später sortieren sie aus." Oft würden auch Anwälte von Studenten zu Terroristen erklärt. Eine Kommilitonin sei am selben Tag verhaftet worden wie sie und sitze bis heute ohne Prozess in Untersuchungshaft.

Sevil redet nicht gerne von sich, viel lieber von den anderen: von 130.000 Unterschriften, die Lyoner Kommilitonen für sie gesammelt haben. Von ihrem Uni-Präsidenten, der zum Prozess in die Türkei gereist war und von französischen Politikern, die sie unterstützt haben.

Zurück in der Heimat gehe es ihr besser. Bald will sie den Universitätspräsidenten treffen, um zu klären, wie es mit dem Studium weitergeht. Wahrscheinlich wird sie das Jahr wiederholen müssen. In die Türkei will sie trotz allem zurück, das betont sie immer wieder. Zum Verfahren, meinte ihr Anwalt, muss sie wohl nicht mehr erscheinen. Ob dieses überhaupt zu Ende geführt wird, ist fraglich. In der Türkei soll im Frühjahr ein Gesetz verabschiedet werden, das viele Urteile wie ihres rückgängig machen soll. "Mein Anwalt sagt, ich kann jederzeit ohne Gefahr in die Türkei zurück." Erst mal bleibe sie aber in Frankreich. "Ich habe gerade kein Geld für ein Flugticket."

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