Unis in Osteuropa gehören nicht gerade zu den Wunschzielen, wenn Deutsche vom Studium in der Ferne träumen. Viele Hochschulen versuchen deshalb, junge Leute mit einer Art Mini-Auslandssemester zu locken. So wie die Warsaw School of Economics.
Sie hat Freunde zu sich nach Hause eingeladen, doch viel Zeit hat Magda nicht für sie an diesem Abend. Alles soll perfekt sein, und dann sind sie auch noch zu spät gekommen. Mit einer karierten Schürze über ihrem Kleid, später soll die Party in einem Club weitergehen, hastet Magda durch die WG. Der Geruch von überbackenem Käse breitet sich aus, die Sandwiches im Ofen sind fast fertig. In dem kleinen Zimmer neben der Küche quetschen sich fünfzehn Leute. Ab und zu kommen ein paar Brisen frische Luft durch das offene Fenster. Es gibt Bier aus Dosen und Wodka mit Gurken. Na zdrowie.
Magda ist 21 Jahre alt, sie studiert Wirtschaft an der Handelshochschule Warschau. Ihre neuen Freunde kennt sie erst seit einer Woche. Auf Facebook hat sie ihnen deshalb penibel erklärt, wie sie zu ihrem Wohnblock finden, einem Zwölfgeschosser in der Innenstadt. „Ich will den Deutschen zeigen, wie man als Student in Warschau lebt", sagt Magda. „Und was polnische Gastfreundschaft bedeutet."
Die Deutschen, das sind 26 Studenten, die aus Köln oder Heidelberg, Ingolstadt oder Lüneburg hergekommen sind, um den unbekannten Nachbarn im Osten kennenzulernen. „Du hast dich für ein anspruchsvolles Programm entschieden", heißt es in der Broschüre der Handelshochschule, älteste Wirtschaftsuni Polens und Gastgeberin der Sommerschule. Die Agenda reicht von Vorträgen über die polnische Finanzwirtschaft bis zum Stadtspaziergang auf den Spuren des Zweiten Weltkriegs. Zwei Wochen Crashkurs in deutsch-polnischen Beziehungen. Garniert mit täglichem Polnischunterricht. Am Wochenende stehen Auschwitz und Krakau auf dem Plan. Ein Auslandssemester im Schnelldurchlauf.
Stipendien sollen Studenten locken
Einige Teilnehmer sind zum ersten Mal soweit in den Osten Europas vorgedrungen. „Ich hatte keine Vorstellung von allem, was zwischen Deutschland und Russland liegt", sagt Sebastian, BWL-Student aus Ingolstadt. „Ich war neugierig und wollte mein Bild von Osteuropa, das von den gängigen Klischees geprägt war, auf die Probe stellen."
Wie viele andere Studenten bekommt Sebastian ein Stipendium vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem größten deutschen Förderer, wenn es um Studienaufenthalte im Ausland geht. „Warschau als Ziel war für mich eher zweitranging", sagt Sebastian. „Das Stipendium war für mich der ausschlaggebende Grund, an der Sommerschule teilzunehmen."
Mit seinem Go East-Programm unterstützt der DAAD speziell den Austausch zwischen deutschen und osteuropäischen Hochschulen. Denn während deutsche Unis bei Studenten aus Osteuropa ein begehrtes Ziel sind, sieht es in umgekehrter Richtung ganz anders aus. Nur wenige entscheiden sich hierzulande für einen Studienaufenthalt etwa in Warschau, Bratislava oder Bukarest.
Um bei jungen Deutschen erst einmal das Interesse an Ländern wie Polen, der Slowakei oder Rumänien zu wecken, laden zahlreiche Hochschulen jedes Jahr zu mehrwöchigen Sommerschulen ein. Sie geben einen Vorgeschmack auf Uni, Land und Leute. Bestenfalls kommen zumindest einige der Teilnehmer für einen längeren Aufenthalt zurück.
Stadt voller Widersprüche
Im Gegensatz zu Sebastian kannte Anna Polen schon, bevor sie zur Sommerschule nach Warschau gefahren ist. Sie hat ein Semester Politik in Breslau studiert. „Polen ist ein tolles Land mit einer spannenden Kultur", sagt Anna. Zu Hause in Hamburg studiert sie Staatswissenschaften. In ihren Semesterferien will sie nun ihre Sprachkenntnisse auffrischen und verbessern. „Dabei habe ich mich bewusst für Warschau entschieden", sagt Anna. „Das ist eine Stadt im Aufbruch, und voller Widersprüche." Sie steht auf der Aussichtsplattform des Kulturpalastes, dem Wahrzeichen Warschaus. Vom Straßenlärm, der unten den gesamten Platz beschallt, bleibt 30 Stockwerke höher nicht viel übrig. Der Wind pfeift, vereinzelt durchdringen Sonnenstrahlen die vorbeirauschenden, grauen Wolken. Sie nehmen für einen Moment das Grau aus den Fassaden. Von hier oben sieht die Stadt aus, als hätte jemand einen Eimer Bauklötze ausgeschüttet. Blöcke aus Beton, die mal hochkant stehen, mal flach daliegen.
Warschau hat gelitten in der Vergangenheit, sehr sogar, das ist unverkennbar. Doch längst ragen auch gläserne Wolkenkratzer aus dem Meer von Plattenbauten, Warschaus Skyline wächst seit Jahren. Die historische Altstadt ist zu großen Teilen originalgetrau wiederaufgebaut. Am rechten Weichselufer thront das Nationalstadion, 2012 zur Fußball-Europameisterschaft eröffnet, in den Landesfarben rot und weiß wie eine Krone über der Stadt. Dort drüben im Stadtteil Praga, nur ein paar Blöcke hinter der Fußballarena, springt die Zeit jedoch um Jahre zurück.
Wer Polen verstehen will, kommt am Thema Kirche nicht vorbei
Drei Kinder rennen durch eine Hauseinfahrt hinaus zur Straße. Hinten im Innenhof gehört die Bühne nun ihr. Ihr ganz allein. Der graue Putz bröckelt fast überall an den vier Ziegelwänden, die fünf Stockwerke in die Höhe ragen. Um ihre Bühne schimmert die Wand des heruntergekommenen Altbaus in gräulichem Blau. Hinter der Scheibe werfen zwei Glühbirnen warmes Licht auf ihr weißes Gewand, über dem eine goldene Kette mit Kreuz liegt. Den Platz hinter der Scheibe teilt sie sich mit lila Veilchen und zwei weiß-roten Flaggen. Die Marienstatue ist eine von unzähligen in Warschau.
Wer verstehen will, wie die Polen ticken, kommt am Thema Religion nicht vorbei. 95 Prozent der Leute sind katholisch, für viele ist der sonntägliche Besuch in der Kirche Pflicht. Zwar gehen gerade junge Menschen immer seltener in die Kirche. Doch bei Weitem nicht so selten wie ihre Nachbarn im Westen, wo viele es gerade noch zu Weihnachten schaffen, an einem Gottesdienst teilzunehmen. „Als ich mit polnischen Freunden zum Urlaub in die Berge gefahren bin", sagt Sebastian, „war ich überrascht, dass wir dort extra in die Kirche gegangen sind."
Magda und ihre Kommilitonen würden den Deutschen gerne viel mehr Eindrücke vom Alltag in Polen geben. Das sei aber kaum machbar in zwei Wochen, bei dem straffen Zeitplan an der Uni. „Die Leute sind so herzlich, das hat mich wieder am meisten beeindruckt hier", sagt Anna, die schon in Breslau von der polnischen Gastfreundschaft begeistert war. „Das gibt es in Deutschland nicht."
Offen für Freunde aus Deutschland
Wer durch Warschaus Straßen streift, liest in einem Geschichtsbuch. Mahnmäler und Gedenktafeln, geschmückt mit Blumen und Kerzen, die Vergangenheit ist überall. Gerade für Deutsche kommt es dabei zu krassen Konfrontationen mit der eigenen Geschichte. „Wir haben eine Stadtführung mitgemacht", sagt Sebastian, „da hieß es ständig: Dieses Gebäude wurde von den Deutschen zerstört. Und dieses. Und dieses. Und dieses." Ältere Warschauer kommen regelmäßig zusammen, um gemeinsam zu gedenken. Erinnerungen sollen nicht verblassen, das Leid der Geschichte nicht vergessen werden. „Manchmal wollten unsere polnischen Freunde gar nicht erst übersetzen, was bei solchen Veranstaltungen auf den Transparenten stand", sagt Sebastian.
Klar, wenn polnische und deutsche Studenten heute aufeinandertreffen, spielt die Geschichte ihrer Länder kaum eine Rolle. Sie schwingt allenfalls in irgendeiner Form unterschwellig mit. „Trotz der traurigen Vergangenheit sind wir jungen Polen offen für deutsche Freunde", sagt Magda. „Mir ist es wichtig, den Deutschen das zu zeigen."
Ohnehin ist Magda, die Amerika aus dem Urlaub und Deutschland von ihrem Auslandssemester kennt, überzeugt: „Wir sind uns ziemlich ähnlich, das Leben in polnischen Großstädten unterscheidet sich kaum von dem in den Metropolen im Westen." Ob Student in Warschau oder Köln, das mache kaum einen Unterschied.
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