Für viele Menschen ist Sarajevo, die Hauptstadt Bosnien und Herzegowinas, noch heute mit den Schrecken des Krieges verbunden. Während des Bosnienkriegs Mitte der 1990er-Jahre stand die Stadt mehrere Jahre unter Belagerung und Beschuss. Mehr als 100.000 Menschen verloren während der langjährigen brutalen Auseinandersetzungen zwischen Kroaten, Serben und Bosniaken ihr Leben. Aufgrund der Kriegsgeschehnisse flohen rund zwei Millionen Menschen ins Ausland.
1995 beendete der Dayton-Friedensvertrag unter Vermittlung der USA und der Europäischen Union den Bosnienkrieg, verfestigte gleichzeitig aber die ethnischen Strukturen in dem Westbalkanland. Denn der Vertrag sah vor, den drei konstituierenden Völkern Bosnien und Herzegowinas, also Bosniaken, Kroaten und Serben, gleiche Mitbestimmungsrechte zu geben. Beispielsweise werden Positionen in Politik und Verwaltung immer noch nach ethnischen Schlüsseln vergeben. Diese Orientierung an ethnonationalen Kriterien lähmt das Land - sozial, politisch und wirtschaftlich.
Das möchte Arnes Jeleč nicht weiter hinnehmen. Richard Brandt hat den 23-Jährigen, der als Bosniake in Sarajevo geboren und aufgewachsen ist, im Rahmen einer Studienexkursion getroffen und mit ihm über das Erbe und die Zukunft seines Landes gesprochen. Arnes studiert „Internationale Beziehungen und Diplomatie" im Master an der Universität Sarajevo und ist gleichzeitig Koordinator der Jugendabteilung der Sozialdemokratischen Partei von Bosnien und Herzegowina im Kanton Sarajevo. Darüber hinaus engagiert er sich seit mehreren Jahren in Nichtregierungsorganisationen wie der „Youth Initiative for Human Rights" (YIHR) zu Themen wie ethnischer Zugehörigkeit, Friedenserhalt, Umweltschutz und politischer Bildung für junge Menschen. Im Interview spricht er über seine Arbeit in der Nichtregierungsorganisation, die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen für junge Menschen in Bosnien und Herzegowina und warum er sich für eine bessere Zukunft einsetzt.
Die „Youth Initiative for Human Rights" organisiert in erster Linie Reisen an Orte, in denen eine große Anzahl von Menschen getötet wurde, wie beispielsweise Srebrenica. Sie planen Gedenkfeiern und besuchen Gedenkstätten. Das Ziel ist, dass ich als Bosniake dorthin komme und gedenke, wo serbische und kroatische Opfer zu beklagen waren. Wir alle sollen dort zusammenkommen, die Orte besuchen, die zerstört wurden, und Geschichten von Menschen hören, die die Internierungslager überlebt haben. Wenn man beispielsweise noch nie vom Völkermord in Srebrenica gehört hat und dann die Möglichkeit bekommt, dorthin zu fahren, dann eröffnet sich einem eine ganz neue Welt.
Religion ist hier mit der ethnischen Identität verbunden. Die Tatsache, dass ich Bosniake bin, bedeutet auch, dass ich Muslim bin. Und diese beiden Identitäten - bosniakisch und muslimisch, kroatisch und katholisch oder serbisch und orthodox - sind in Bosnien und Herzegowina sehr eng miteinander verbunden. Es ist schwer, sie zu trennen.
Die Menschen sind aber nicht immer praktizierende Gläubige. Wenn jemand den Islam angreift, werde ich den Islam nicht verteidigen, weil ich fünfmal am Tag bete und mir Gott so wichtig ist, sondern eher, weil jemand das angegriffen hat, was ich als Teil meiner Identität empfinde. Etwas, mit dem ich aufgewachsen bin. Etwas, das meine Eltern sind. Das gilt für alle ethnischen Gruppen.
Ich bin in einem muslimischen Haushalt aufgewachsen und sage immer noch gern, dass ich Muslim bin. Aber nicht, weil ich den Islam praktiziere. Für mich ist das ein Teil meiner Identität. Alle bekannten Vorfahren bis zu meinen Urgroßeltern sind Bosniakinnen und Bosniaken. Aber mein Nachname ist kroatisch, also habe ich wahrscheinlich auch kroatische Wurzeln. Ich habe das Gefühl, dass junge Menschen liberaler und weniger konservativ sind, aber sie tragen diese religiöse Identität immer noch in sich.
Jedes Problem, das wir in Bosnien und Herzegowina haben, hat einen politischen oder historischen Hintergrund. Ich höre immer wieder, dass Leute sagen: „Es sind die Politiker, die das Land spalten, also die Politiker, die Nationalisten sind." Wir haben tatsächlich Politikerinnen und Politiker an der Macht, die Nationalisten sind. Aber wir leben immer noch in einem demokratischen Land, in dem die eigene Stimme wirklich zählt. Wir leben nicht in einem Land, in dem Wahlen inszeniert werden. Sie werden zwar manipuliert, aber es gibt eine Grenze, bis zu der sie manipuliert werden können. Wir leben nicht in einem Land, in dem Politiker nicht ersetzt werden können. Und wer wählt die Politikerinnen und Politiker? Das sind wir. Wir wählen die nationalistischen Politiker, die uns spalten.
Es gibt Leute, die solche Politiker wählen, weil sie sagen: „Es ist mir egal, ob ein Politiker korrupt ist, zumindest gehört er zu mir. Er beschützt mich vor allen anderen." Es ist besser, einen korrupten Bosniaken zu haben als einen guten Kroaten oder Serben. Und das gilt für jede ethnische Gruppe. Viele Menschen geben das aber nicht zu.
Nein, junge Menschen sind sehr passiv. Manche gehen zwar zur Wahl, aber generell nehmen junge Leute ihr Mitbestimmungsrecht nicht wirklich wahr. Viele wissen nicht, wen sie wählen können und welche Regierungsebenen es gibt. Wenn es um politischen Aktivismus außerhalb von Wahlen geht, ist die Zahl ebenfalls niedrig. Junge Menschen wissen nicht, welche Rolle die Gemeinde, der Kanton, der Bund oder die politischen Teilungen spielen.
Ich spreche nicht über den Krieg, weil ich ihn mag. Ich spreche über den Krieg, weil die Hälfte des Landes immer noch die Geschichte umdeutet. Die Republika Srpska hat ihr eigenes Bildungssystem, und das ist völlig anders. Nicht nur, wenn es um den Krieg in den 1990er Jahren geht, sondern um alles: um die Verfassung unseres Landes, um den Charakter des Krieges, um die Verbrechen, sogar um die Zeit vor der Gründung Jugoslawiens. Das ist ein großes Problem. Ich spreche darüber und ich glaube wir sollten darüber sprechen. Denn so lange Umdeutungen stattfinden, muss man für die Wahrheit kämpfen. Da kann man nicht einfach aufgeben.
Ein großes Problem! Junge Menschen verlassen die Region, weil sie wegen der Korruption keine Arbeit finden. Wir haben beispielsweise ein Arbeitsamt, bei dem man sich nach der Schule anmeldet und das einen dann zur Berufsfindung anrufen soll. Das geschieht aber nie. Wir haben eine Situation, in der ein junger Mensch beispielsweise Medizin studiert, hart arbeitet, einen Masterabschluss hat. Alles tut, was er tun muss, um Arzt zu werden. Und er kann nicht als Arzt arbeiten. In jedem normalen Land würde er zumindest die Chance bekommen, in einer bestimmten medizinischen Einrichtung zu arbeiten. Das ist hier nicht der Fall. Es sei denn jemand ist ein Cousin von jemandem, selbst wenn die Person vielleicht weniger gebildet ist als man selbst. Das ist völlig normal. Aber auch, wenn man einen Job bekommt, sind die Löhne niedrig. Es gibt keine Arbeitnehmerrechte, man hat selten frei. Es sind einfach sehr schwierige Arbeitsbedingungen. Darum beschließen viele junge Leute, nach Österreich oder Deutschland zu gehen. Es ist besser, als Kellner in Deutschland zu arbeiten als Kellner in Bosnien und Herzegowina zu sein.
Jetzt ist die Situation allerdings noch dramatischer. Es sind nicht nur die jungen Leute, die das Land verlassen. Es sind nicht einmal nur Leute, die keine Arbeit finden. Wir haben es mit einer Situation zu tun, in der auch wohlhabende Menschen, die in Bosnien und Herzegowina alles bekommen können, was sie brauchen, das Land verlassen. Weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder in einem nationalistischen Umfeld aufwachsen.
Bildquelle: Richard Brandt, 2022
Quellen:
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YIHR BiH - Youth Initiative for Human Rights in Bosnia and Herzegovina.