Köln/Minden (rde). Es ist ein sonniger Tag, als Walter Seifert die Katholische Volksschule Volkhoven in Köln betritt. Der 42-Jährige trägt einen blauen Arbeitsanzug, wird anfangs kaum beachtet. Im Gepäck hat er eine zum Flammenwerfer umgebaute Pflanzenspritze und eine Lanze.
Mit einem Holzkeil blockiert er das Tor. Der Frührentner attackiert zuerst Lehrerin Anna Langohr, die Turnunterricht auf dem Pausenhof gibt, dann die Kinder mit dem Flammenwerfer. Mit einer Schleuder zerstört er Scheiben der Klassenräume, zielt mit dem Flammenwerfer auf weitere Kinder. Die Lehrerinnen Ursula Kuhr und Gertrud Bollenrath werden durch die Lanze schwer verletzt. Nach der Tat schluckt Seifert das Pflanzengift E605, stirbt später im Krankenhaus.
Der Täter Walter Seifert, Jahrgang 1921, wohnte im Kölner Stadtteil Volkhoven, unweit der Schule, an der er das Attentat beging. Er galt als geschickter Handwerker, seine Lehre als Metallhobler hatte er mit Auszeichnung bestanden. Während des Zweiten Weltkriegs hatte er eine Waffenschule besucht. 1945 geriert er in Gefangenschaft. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrte er mit Tuberkulose heim.
Zunächst arbeitete er bei Ford, dann als Polizist. Nach einem knappen Jahr wurde er wegen seiner Lungenerkrankung 1946 für dienstuntauglich erklärt. Mit dem Versorgungsamt hatte er vergeblich darum gestritten, sie als Kriegsleiden anzuerkennen. Ein Zusammenhang mit den Strapazen der Kriegsgefangenschaft wurde nicht festgestellt.
In einem Gutachten wurde er als ein psychisch abwegiger Mensch ohne Gesundungswillen bezeichnet. Seifert fühlte sich falsch beurteilt. Es folgten psychiatrische Untersuchungen, bei denen ihm „verschrobenes Verhalten" und „zerfahrene Gedankengänge" bescheinigt wurden. Eine weitere Diagnose lautete: „Schizophrener Defektzustand beziehungsweise paranoide Entwicklung." Seiferts Frau, die er 1955 ehelichtete, starb drei Jahre vor der Tat im Kindsbett.
Walter Seifert hatte nach seiner Tat das Pflanzenschutzmittel E605 geschluckt, Ärzte hatten ihm den Magen ausgepumpt und für vernehmungsfähig erklärt. 18.45 Uhr wurde er verhört. Auf die Frage nach dem Grund sagte Seifert laut Polizeiakte: „Differenzen mit Ärzten." Auf die Frage, warum er die Kinder angegriffen habe, antwortete er „das ist zu langatmig". Geplant habe er die Tat „schon lange". Dass es sich um die Kinder der Schule am Volkhovener Weg gehandelt habe, sei „Zufall" gewesen. Generell waren die Angaben zum Tathergang und dem Motiv bruchstückhaft. 20.35 Uhr starb Seifert in der psychiatrischen Abteilung der Uniklinik Lindenburg. (rde)
Das Ganze ereignete sich am 11. Juni 1964, vor 50 Jahren. Was vor fünf Dekaden passiert ist, daran wird Bruno Kassel an jedem Tag erinnert. Dafür reicht ihm ein Blick in den Spiegel. Großflächig ist der Körper des 59-Jährigen, der mittlerweile in Minden wohnt, mit Narben übersät.
An jenem Morgen 1964 war er Walter Seifert vor die Füße gefallen, als er in Panik aus seiner brennenden Klasse fliehen wollte und über eine Stufe zum Schulhof stolperte. „Die Gelegenheit hat er genutzt und mit dem Flammenwerfer drauf gehalten", sagt Kassel. Innerhalb weniger Sekunden hatte er keine Haare mehr auf dem Kopf, das Nylonhemd war mit seiner Haut verschmolzen. Er habe sich hochgerappelt und war als lebende Fackel in Richtung Schultor gelaufen. Dort hätten Müllmänner, die vor der Schule die Tonnen leerten, ihn und weitere Kinder gelöscht, erzählt der 59-Jährige. Die Müllmänner hielten Autos an, setzten Kinder rein, Ziel: das Heilig-Geist-Krankenhaus im Kölner Stadtteil Longerich.
Kein Notfall, sondern eine Katastrophe Das war das zum Tatort am nächsten gelegene Klinikum und hatte erst vier Monate vor dem Ereignis eröffnet. „Wir haben gelernt, mit einem Notfall umzugehen, doch das war kein Notfall, das war eine Katastrophe", sagt Dr. Walter Englert. Der heute 86-Jährige war damals Oberarzt der Chirurgie gewesen. Ärzte aus anderen Kölner Kliniken wurden einbestellt, sollten helfen. Die Kinder wurden versorgt, später auf andere Häuser verteilt.
Bruno Kassel kam in das Kinderkrankenhaus an der Amsterdamer Straße. Das sei für ein knappes Jahr sein Zuhause gewesen, sagt er. Die Station B4, das war die für die Volkhoven-Kinder. Etliche Operationen waren nötig, Haut wurde transplantiert. Die Wundränder wurden mit Silbernitrat, auch Höllenstein genannt, geätzt, damit sich kein „wildes Fleisch" bildet. Dann hieß es wieder Laufen lernen, monatelang hatten seine Füße nicht sein Gewicht getragen. „Meine erste Exkursion führte ans Fußende vom Bett. Da war ich stolz wie Oskar, als ich das nach ein paar Tagen geschafft habe." Es sei eine Zeit voller Schmerzen gewesen, die er gar nicht in Worte fassen könne, so der Mindener.
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