In der Welt von Thomas Meiler klingt Musik nicht, sie schwingt. Wenn er die Kopfhörer aufsetzt und den Lautstärkeregler aufdreht, vibriert sie vom Kopf hinab in den Rest des Körpers. In die Brust, in Arme und Beine. Der 35-Jährige fasst mit der rechten Hand an die Stelle, wo er die Schwingung am intensivsten spürt. Es ist dort, wo das Herz schlägt. „Das ist geil!", sagt er. Vor allem der Bass ist es, der ihn die Musik zu fühlen lässt. Denn hören kann der Hanauer sie nicht.
Willkommen in der Welt der StilleThomas Meiler ist gehörlos und damit Teil einer Welt, die den Hörenden verschlossen bleibt. Es ist eine Welt der absoluten Stille, in der Autos lautlos auf regennassen Straßen fahren, in der Menschen tonlos sprechen, in der kein Fluglärm die nächtliche Ruhe stört. Es ist eine Welt, die über Bewegungen zum Leben erweckt wird. „Wir sind Augenmenschen", sagt Thomas Meiler. Für viele Menschen, die taub sind, oder nur sehr eingeschränkt hören können, ist diese Tatsache mehr eine kulturelle Identifikationsfläche, als eine körperliche Einschränkung. „Ich bin stolz, gehörlos zu sein", sagt er. Und mit dieser Einstellung ist er nicht allein.
Bild-ZoomFoto: imago Gebärdendolmetscherin bei einer Dialogarbeit beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist seit 2002 offiziell als eigenständige Sprache anerkannt.In Hessen gibt es laut Landesverband der Gehörlosen 6000 Menschen, die sich dieser Kultur zugehörig fühlen und nur 3000 Menschen, bei denen Taubheit medizinisch diagnostiziert wurde. Rund 10000 Menschen in Hessen sprechen die Gebärdensprache. Und wie in den meisten Kulturen, ist die Sprache das Fundament für die gemeinsame Identität. Es gibt Landessprachen und Dialekte - sogar mehrere unterschiedliche Sprachfärbungen in einem Land.
Eigene Sprache, eigene KulturTrotzdem können sich Gehörlose international gut verständigen. Denn die Gebärden sind in allen Sprachen ähnlich. Seit dem Jahr 2002 ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS) durch das Bundesgleichstellungsgesetz offiziell als eigenständige Sprache anerkannt.
So sind die Gehörlosen in Frankfurt organisiert clearingThomas spielt Tennis - und das ziemlich gut. Er war auch schon Teil der Gehörlosennationalmannschaft. Sport spielt in der Gehörlosenkultur eine große Rolle. Es gibt Vereine, nationale Sportverbände und die Deaflympics. Das ist ein international ausgetragener Wettbewerb im Gehörlosensport, vom Internationalen Olympischen Committee (IOC) anerkannt.
Seit er sieben Jahre alt ist, treibt Thomas Sport - auch mit Hörenden. Der Kontakt zwischen den beiden Welten sei wichtig, sagt er. In Schule und Kindergarten war er aber lieber unter sich. Thomas wurde als Hörender geboren. Erst mit etwa drei Jahren wurde bei ihm eine hundertprozentige Schwerhörigkeit diagnostiziert. Schwere Mittelohrenentzündungen im Ohr sind schuld. Seine Eltern schickten ihn trotzdem zunächst in einen regulären Kindergarten in seiner Heimat, in der schwäbischen Ostalb. „Dort habe ich mich sehr einsam und isoliert gefühlt", erzählt er. Er stand außerhalb der Gruppe und war kein Teil von ihr.
Körperliche Gewalt im KindergartenDort wurde er gehänselt und auch körperlich angegriffen. Das änderte sich, als er in einen Kindergarten für Hörgeschädigte kam. Er hat seinen Realschulabschluss schließlich in einer speziellen Schule für Hörgeschädigte gemacht. Inklusive Beschulung, zumindest in der Form, in der sie in Hessen an den Regelschulen praktiziert wird, sieht er sehr skeptisch. „In der Schule kann es sein, dass man betreut wird, aber was passiert auf dem Schulhof?", sagt er. Es fehlen Lehrer und gut ausgebildete Betreuer.
Die Welt der Hörenden ist nicht erstrebenswertDie Welt der Hörenden; eine hektische Welt für Thomas Meiler. Oft sprechen sie zu schnell. Dann muss er nachfragen. Dann muss er bitten, dass sie die Sätze wiederholen. Dabei hilft auch das Smartphone, das der Hörende seine rastlosen Sätze hineinsprechen kann und die dann von einem Programm verschriftlicht werden. Aber eigentlich geht es auch ohne technische Hilfsmittel. Menschen, die nur sehr schlecht, oder gar nicht hören können, kommunizieren mit ihrem ganzen Körper. Sie wenden sich ihrem Gesprächspartner in jeder Hinsicht zu. Sie schauen ihn direkt an, sie lesen von den Lippen, sie beobachten Gestik und Mimik. Und dann klappt das auch.
In der Welt der Gehörlosen gibt es Chöre, Musiker und HipHop-Tänzer. Die gehörlose HipHop-Weltmeisterin Kassandra Wedel stand 2016 in Finale der Pro-Sieben-Show „Deutschland tanzt". Sie ist auch Europas erste gehörlose Tanzlehrerin. Und so scheint vor allem die Musik eine Schnittstelle zwischen den zwei Welten zu sein. Auch in Frankfurt gibt es den integrativen Gebärdenchor Liebfrauen.
„Wer nicht hören kann, ist dumm." Dieses Gerücht hält sich auch heute noch hartnäckig, erzählt Thomas. Und die Frage, ob es im Straßenverkehr nicht gefährlich ist, nichts zu hören, tut er mit einem milden Lächeln ab. Es sei gefährlicher, im Auto zu telefonieren oder mit dem Smartphone vor der Nase durch die Stadt zu laufen, als taub zu sein, sagt er.
Und wenn ihn jemand das nächste Mal am Bahnsteig nach dem Weg fragt, hofft er, dass der Fragende nicht gleich weitergeht, wenn Thomas sagt, dass er gehörlos ist. Denn den Weg kann er schon beschreiben, nur eben aus einer Welt der Stille hinaus, die vielleicht dem ein oder anderen Hörenden auch mal gut tun würde.