Was sehen Geheimdienste eigentlich? Zum Beispiel einen visualisierten Informationshaufen, ein zweidimensionales Datenknäuel. „Hier habe ich also ein Cluster", sagt Sean Hunter und klickt neben das Verbindungschaos, das sofort seine Form verwandelt - und etwas weniger verworren wirkt. „Das Bild ist immer noch ziemlich komplex", gibt der Analyst zu und klickt auf ein anderes Symbol. „Ich möchte mich auf die wichtigsten Informationen konzentrieren, ... ich kann hier reinzoomen..." Die Datenpunkte ordnen sich linienförmig an, ihre Vernetzungen bleiben. Mit einem weiteren Klick entsteht ein Bild, das einem Stammbaum oder einem Organigramm ähnelt - oben zwei Rechtecke, in der Mitte und ganz unten vier. „Jetzt habe ich also eine Hierarchie", sagt Hunter. Die untere Reihe bilden die User, die Reihe darüber Computer und die zwei oberen Punkte sind IP-Adressen. Für den Analysten ist das Bild noch immer zu komplex. Und nicht eindeutig genug. „Meine erste Frage als Analyst ist: Was machen die vier Nutzer?". Um das herauszufinden, verbindet Hunter die Daten mit einer Datenbank, die sämtliche Aktivitäten aller Computer gespeichert hat. Er weiß jetzt, welche IP-Adresse zu welchem Zeitpunkt was gemacht hat. Wieder mehr Daten, ein neues Knäuel. „Jetzt beseitige ich alles, was ein Gefährlichkeitsrating unter zehn hat." Ein Klick: eine neue Hierarchie. Ein weiterer: eine isolierte Einzelperson. Zum Schluss ein Muster, ein bewegliches Bild von allen Aktivitäten der Person. Am Ende erscheint auf dem Bildschirm ein Foto. Sean Hunter hat - zu seinem Nachnamen passend - den Verdächtigen überführt. Der heißt „Adrik Pavlo" und ist Mitglied einer russischen Hackergruppe.
Das ist ein Ausschnitt eines Vortrags den der Analyst im Mai vergangenen Jahres auf der Konferenz „GovCon UK II" gehalten hat. Jährlich richtet das US-Unternehmen Palantir Zusammentreffen von Geschäftsleuten und Regierungsmitarbeitern aus, um diese über die unglaublich scheinenden Chancen von Big Data zu informieren. Wie der Name andeutet, wendet sich der im Silicon Valley ansässige Hersteller von Daten-Analysetechnik mit der Veranstaltung direkt an Regierungen, aber auch an die Privatwirtschaft und Mitarbeiter von NGOs. Palantir verkauft Software für Betrugsanalyse, Gefahrenabwehr, Finanzprognosen. Die Software - auch die von Hunter vorgestellte - ist nahezu universell einsetzbar. Man könnte die Firma als einen Gemischtwarenhandel für Datenanalyse bezeichnen. Überwachung ist nur ein Teil der Produktpalette. Zum Angebot gehört auch „Philantropy Engineering", also Analysetools, die Naturkatastrophen und sogar Völkermord besser begreifbar machen sollen. Das Unternehmen will sogar einen Hackerangriff auf den Computer des Dalai Lama aufgeklärt haben.
Sein Bemühen um einen menschenfreundlichen Einsatz von Data Mining rückt der Gründer und CEO Alexander Karp - der beim deutschen Philosophen Jürgen Habermas in Frankfurt Soziologie studierte - besonders gerne in den Vordergrund. Mit dem Versuch unter dem Label Big Data alle schmutzigen Überwachungsgeschäfte unter den Teppichsaum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu fegen, steht Palantir längst nicht alleine da. Sogar der frühere Arbeitgeber von Edward Snowden, Booz Allen Hamilton, präsentiert sich gerne als hippes Unternehmen für Big Data-Technik. Obwohl 98 Prozent der Umsätze des Unternehmens aus Verträgen mit NSA, CIA und anderen US-Diensten kommen.
Big Data. Das klingt noch immer mehr nach Internet-Marketing als nach Spionage. Und genau das machen sich viele Soft- und Hardwarefirmen zunutze. Auch weil einige von ihnen eine Imagepolitur ziemlich nötig haben. 2012 flossen 70 Prozent des NSA-Budgets unmittelbar in private Auftragsfirmen. Rund 500.000 Menschen, bei Unternehmen wie Booz Allen Hamilton, Northrop Grumman und Raytheon, haben Einsicht in Dokumente, Zahlen und Programme mit dem Label „top secret". Das ist allerdings nur theoretisch die höchste Sicherheitsstufe. Und „this chart still isn't the full story", schrieb die Washington Post im Juni unter ein Diagramm, mit dem man zeigen wollte, wie groß die Gemeinde der „Wissenden" ohne direkte Geheimdienstverträge tatsächlich ist. Nur 30 oder 40 Personen hätten demnach Möglichkeiten zur Überwachungs-Komplettansicht.
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