Ein Teil der Antwort auf diese Fragen liegt sieben Jahre zurück. Damals wurde Bucca aufgelöste, das größte Gefängnis der amerikanischen und britischen Besatzung im Süden des Irak. Hinter den Gefängnis-Mauern entstand die Idee des IS. „Da saßen die Größen vom IS, Saddam-Loyalisten, Ex-Offiziere der irakischen Armee und der Schiiten alle im Knast“, zählt Birgit Svensson auf. Die Journalistin lebt seit zwölf Jahren in Bagdad. Sie sagt: „Alles begann in Bucca und alles begann im Irak“.
Die sunnitische Bevölkerung im Irak rebellierte gegen die schiitische Regierung von Nuri al-Maliki. Dann, im Januar 2014, griff die Terrormiliz IS in das irakische Chaos ein: Erst übernahm der IS Falludscha in der sunnitischen Provinz al-Anbar. Im Mai folgte Ramadi, im Juni Mossul und Tikrit. Viele irakische Soldaten desertierten. Wieso war die Armee nicht stark genug, sich gegen die Miliz zu wehren?
Eine schwache Armee
Bei den Kämpfen traf es die Iraker schwer. Allein schon bei der
Verteidigung Mossuls fielen 1.000 Soldaten. In der Nähe von Tikrit
wurden etwa 650 bis 770 Kadetten von IS Kämpfern erschossen. So schreibt
es das Heidelberger Institut für Konfliktforschung im Conflict
Barometer.
Ein möglicher Grund für die hohen Verluste auf irakischer Seite ist die junge Armee. Es fehlte an Rekruten, weil Der US-Administrator Paul Bremer 2003 das gesamte Militär aufgelöst hatte. Heute sind die Soldaten keine 30 Jahre alt und schon Kommandeure. “Das Pentagon sagte schon damals”, erinnert sich Journalistin Svensson, “dass die Ausbildung völlig unzulänglich ist.” Die irakische Armee hatte weder eine effektive Luftabwehr noch eine gute Luftwaffe.
Svensson kennt Telefonprotokolle der irakischen Regierung, in denen eins besonders deutlich wird: Es gab keine eindeutigen Befehle. Die Kämpfe in Mossul überforderten die Armee. Und noch eins kam dazu, sagt Svensson: “der damalige Premier al-Maliki gab selber den Befehl zum Rückzug aus Mossul.“ Es gibt Hinweise, dass Maliki eine Schlüsselfigur beim Erstarken des IS gespielt hat.
Ein Grund dafür liegt in seiner sektiererischen Politik, durch die
Maliki Sunniten und Schiiten gegeneinander aufhetzt. Im August 2014 trat
der Premier zurück. Das Chaos regiert weiter.
Eine Armee ohne Rückhalt
Svensson weiß von 28 schiitischen Milizen im Irak, die mächtiger werden. Die irakische Armee hingegen ist von der Unterstützung anderer abhängig. Der Zusammenschluss mit regierungstreuen sunnitischen Stammeskämpfern, schiitischen Freiwilligen, der Einsatz der kurdischen Peschmerga im Nordirak und die Luftangriffe der internationalen Koalition gegen den IS, hat der Armee zu neuer Stärke geholfen (Conflict Barometer, 2014).
Das zeigt sich auch in der Inhaltsanalyse. In 16 von 20 Artikeln spielt die militärische Unterstützung der irakischen Armee eine Rolle. In zehn von 17 Artikeln wird sogar von Erfolgen und nur in der Hälfte von einer Niederlage gesprochen. Dabei stützen sich die Berichte der SZ, Welt und Taz allerdings vor allem auf andere Medien oder Angaben der irakischen Regierung sowie der Armee selbst (s. Grafik). Auch Svensson sagt, die Kommandostrukturen würden nun klarer. Trotzdem bleibt die Lage undurchsichtig, die Kooperationen der Konfliktparteien sind von Provinz zu Provinz unterschiedlich.
Dazu kommt, dass die Kämpfe im Jahr 2014 die irakischen Soldaten zermürbt hat. Das erlebte Birgit Svensson im Gespräch mit Deserteuren. Die Deserteure fragten sich, so Svensson, wofür sie kämpfen sollen: „Für ein Land, das de facto schon zerfallen ist? Für ein Kommando, was wir nicht nachvollziehen können? Oder für die Amerikaner, die uns mit Luftangriffen unsere Häuser zerstören?“.
Seit die USA bei der Zurückeroberung von Ramadi gemeinsam mit
sunnitischen Stammeskämpfern intervenieren, erlebt die Journalistin die
Moral als leicht gestärkt. Doch der Konflikt zwischen Sunniten und
Schiiten besteht weiterhin und wird zusätzlich vom IS befeuert.
Ein zerfallenes Land
Die Bevölkerung steht nicht hinter ihrer Armee, sondern befürwortet
teilweise die Terrormiliz. „Wenn die Leute meinen, dass sie unter dem IS
besser leben können als unter dem Chaos, was sonst herrschen würde,
dann wird es schwierig werden“, sagt Svensson über das gemeinsame Ziel
der Kriegsparteien, den IS aus dem Irak zu vertreiben. Ihrer
Einschätzung nach ist seit 2014 relativ wenig Fläche zurückerobert
worden. Die rohe Gewalt schreckt die irakischen Bürger zwar ab, doch sie
erhoffen sich von der Terrormiliz eine funktionierende Infrastruktur.
„Die Menschen wägen ab. Es geht da ums nackte Überleben“, sagt Svensson.
Viele haben den Überlebenskampf schon verloren. Allein im Jahr 2014 flohen 2,75 Millionen Menschen aus ihrer Heimat und 12.282 Zivilisten wurden UNO-Berichten zufolge bei den Kämpfen getötet. Die Heidelberger Wissenschaftler sprechen „vom schlimmsten Jahr für Zivilisten im Irak seit 2008“. Das deckt sich mit den Erfahrungen von Birgit Svensson. In ihren Augen sieht die Zukunft des Irak düster aus. Eine Einheit des Landes sei nicht zu erwarten. Selbst wenn es gelingen sollte den IS zu besiegen, bleiben die Spannungen im eigenen Land, die Machtansprüche der schiitischen Milizen. „Die Frage ist heute nicht mehr, ob der Irak zerfällt, sondern wie der Irak zerfällt”. Hier findet Ihr unsere Analysen zum islamischen Staat, der syrischen und irakischen Kurden, der syrischen Armee und der internationalen Koalition.
Quellen: Conflict Barometer 2014, Aussagen von Birgit Svensson, eigene Datenerhebung über eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung der Tageszeitungen Süddeutsche Zeitung, Welt und TAZ im Sommer 2014.
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