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Ein strahlend schönes i

Eva Kaynak ist Synästhetin. Jedes Wort, dass sie hört, sieht sie auch in bunten Farben vor sich

Von Ralf Stork

Eva Kaynak hat ein besonderes Verhältnis zu Farben. Es gibt Tage, da kann sie ihren Lieblingspullover nicht anziehen, weil die Farben nicht zu ihrer Stimmung passen wollen. Manchmal entstehen bunte Formen vor ihrem inneren Auge, die sie dann später auf Papier bringen muss. Ständig sind da Farbexplosionen in ihrem Kopf. Weil jeder Buchstabe von jedem Wort, das sie hört, einen ganz spezielles Farbempfinden auslöst. Das – i – zum Beispiel ist ein sehr guter Buchstabe. Mit seiner Strahlkraft taucht er andere Buchstaben gleich mit in sein satt leuchtendes Gelb. Übertroffen wird es nur vom – ie – der einzigen Buchstabenkombination, die aus mehreren Farben besteht. „Gelb, orange und rot, ein bisschen wie ein loderndes Feuer“, sagt Kaynak. Mit ihrem Vornamen dagegen hat sie lange gehadert. Eva. Das Rosa des -E-s gefällt ihr einfach nicht besonders gut.

Kaynak ist Synästhetin. Das Wort leitet sich aus dem griechischen syn (= zusammen), und Ästhesis (= Empfinden), ab. Bei Synästheten verarbeitet das Gehirn Informationen, die bei den meisten Menschen nur eine Wahrnehmung auslösen, mit mehreren Sinneseindrücken gleichzeitig. Die Mehrheit hört Musik und Sprache, aber sieht Töne und Buchstaben nicht zusätzlich in bunten Farben. Auch können die meisten keine Bewegungen hören, Geschmack als geometrische Form wahrnehmen oder Töne schmecken. Doch all das gibt es: Bisher sind mehr 80 Synästhesien bekannt und beschrieben. Und die Liste wächst kontinuierlich. Die Farb-Graphem-Synästhesie, bei der wie bei Eva Kaynak Zahlen und Buchstaben mit bestimmten Farbwahrnehmungen verknüpft werden, gehört zu den häufigeren Formen.

Das - i - leuchtet satt gelb


„Seit ich denken kann, sind Buchstaben und Zahlen für mich mit Farben verbunden“, sagt Eva Kaynak und zuckt mit den Schultern. Ganz normal, soll das vielleicht heißen, ich kenne das gar nicht anders. Die 60-Jährige sitzt in einem lichten Raum mit großen Schaufenstern und ist von Farben regelrecht eingehüllt: An den Wänden hängen bunte Linoldrucke und abstrakte Bilder. Auf vielen davon sind Rechtecke zu sehen. „Das ist meine Form“, sagt Kaynak. Die hellen Räume sind ihr Atelier, das sie vor vier Jahren in einem ruhigen Teil von Berlin Charlottenburg eingerichtet hat.

Was ist schon normal?

„Als ich klein war, ging ich davon aus, dass alle Menschen so wahrnehmen wie ich“, sagt Kaynak. Nicht, dass sie groß darüber nachgedacht hätte. Wahrnehmung passiert ganz automatisch, ohne dass wir sie irgendwie steuern würden. Als Jugendliche hat sie dann festgestellt, dass sie offensichtlich anders als die anderen ist. „Mit 14 oder 15 habe ich beiläufig mal von den blauen und gelben Buchstaben erzählt, das kam nicht so gut an“, erzählt sie. Ihre Mitschülerinnen fanden es befremdlich, dass da offensichtlich jemand die Welt so anders wahrnahm als sie. Es ist nicht immer leicht, anders als die anderen zu sein. Diese Erfahrung teilen viele Synästheten und Synästhetinnen .


Seit diesen negativen Erfahrungen überlegt sich Eva Kaynak sehr genau, wem sie von ihren Farben erzählt. Besonders viele sind es nicht; ihre Fähigkeit bleibt jahrelang ihr Geheimnis. Während sie bis zur Pubertät davonausgegangen war, dass alle die Welt genauso sehen wie sie, war sie danach vom Gegenteil überzeugt: „Ich habe wirklich geglaubt, ich bin mit meiner Art der Wahrnehmung allein auf der Welt“, sagt sie. Das änderte sich erst 2012. Eine Freundin, die Kaynaks Besonderheit schon lange kennt, war zufällig auf einen Artikel über Synästhesie gestoßen und hatte gleich die Parallelen gesehen.

Ein Textband unterm Auge läuft immer mit

„Der Artikel war eine Befreiung für mich“, erinnert sich Kaynak und atmet hörbar aus. Die Größe der Last, die damals von ihr abgefallen sein muss, ist bis heute spürbar. Plötzlich war sie nicht mehr allein. Plötzlich gab es da andere, mit denen sie sich austauschen konnte. Und - noch viel besser: Seitdem gibt es ein schönes Fremdwort, das ihre Besonderheit beschreibt. Synästhesie. Synästhetin. An die Stelle der Wortlosigkeit ist eine wissenschaftliche Erklärung. getreten. Sie ist nicht länger der Freak, der Sonderling, sondern Teil eines faszinierenden, gut erforschten, neurologischen Phänomens.


Es gibt Schätzungen, denen zufolge bis zu vier Prozent der Bevölkerung synästhetisch wahrnehmen. So genau weiß das keiner, weil vielen gar nicht klar ist, dass an ihrer Wahrnehmung etwas besonders ist. Auch Eva Kaynak hat erst vor ein paar Jahren herausgefunden, dass sie auch noch eine sogenannte Ticker-Tape-Synästhetin ist: Jedes gesprochene Wort sieht sie vor ihrem rechten Auge wie ein Nachrichtentickerband vorbeiziehen. Man weiß, das Synästheten bei Gedächtnistests überdurchschnittlich gut abschneiden. Und dass der Anteil bei Künstlern deutlich erhöht ist. Die Musikerin Billie Eilish zum Beispiel ist Synästhetin. Sie kann ihre Lieder in unterschiedlichen Farben und auch räumlich sehen. Für ihr Debut-Album hat sie ein Museum eingerichtet, in dem sie einen eigenen Raum für jedes Lied gestaltet hat. Beim Maler Wassily Kandinsky löste Musik intensives Farbempfinden aus. Auch die Komponisten Franz Liszt und Leonard Bernstein sowie der Autor Vladimir Nabokov waren Synästheten.


Was bei Synästhesien genau im Gehirn passiert – und warum – ist noch nicht abschließend geklärt. Synästheten haben im Vergleich zu Menschen ohne Synästhesien mehr graue Substanz in den Bereichen des Gehirns, die für die Farbwahrnehmung und für die Verknüpfung von Sinneseindrücken sind. Das spricht für eine intensivere Nutzung dieser Regionen. Ein Erklärungsansatz für die synästhetische Wahrnehmung geht von einer stärkeren Vernetzung (Hyperbinding) verschiedener Gehirnregionen bei Synästheten aus. Nach einem anderen Erklärmodell könnte die synästhetische Wahrnehmung dadurch entstehen, dass die Hemmung im Gehirn (Inhibition), die dafür sorgt, dass bestimmte Hirnareale getrennt voneinander arbeiten, reduziert ist.


Man kann sich aber gut vorstellen, dass synästhetische Wahrnehmung in der Frühzeit der Menschen Vorteile hatte. Denn sie können die Einschätzung von Situationen erleichtern. Wenn zum Beispiel ein Geräusch zusätzlich eine Farbe hat, kommt das Gehirn schneller zu dem Schluss, ob das Geräusch zu einem harmlosen oder einem gefährlichen Tier gehört. In unserer lauten, bunten und hektischen Welt von heute kann solche Feinsinnigkeit jedoch leicht zur Reizüberflutung führen.


Als Eva Kaynak endlich ein Wort für ihre Wahrnehmung hat, an dem sie sich ausrichten kann wie die Kompassnadel am magnetischen Nordpol, hatten die Farben schon lange begonnen , aus ihrem Inneren nach Außen zu treten. Für Malerei hatte sie sich schon immer interessiert. Seit 2001 geht sie diesem Interesse gezielt nach. Sie fährt mit einer Freundin nach Ligurien. Nur zum Malen. Besucht danach immer wieder Kunstkurse. 2009 zeigt sie in einer Ausstellung das erste Mal eigene Bilder. Seit 2016 hat sie ihr eigenes Atelier mit Galerie.


Malerei als Ausdrucksmittel

Heute ist Malerei für Eva Kaynak zu einem wichtigen Experimentierfeld mit der eigenen Wahrnehmung geworden: Einige Bilder in der Galerie hat sie eins zu eins von ihrem inneren Auge abgemalt. Andere sprechen eher zufällig synästhetisch zu ihr. Kaynak holt ein Blatt hervor, farbige Schwünge in rot und blau und grün sind darauf zu sehen. Vor einem gelblichen Hintergrund. Eigentlich nur eine Übung, beiläufig entstanden. Aber als das Blatt fertig war und Kaynak es genauer betrachtete, sah sie eine Zahl. 47.675. Manchmal auch – je nach Stimmung – eine 46.745. Nichts anderes. Die Zahlen haben sich ihr so deutlich materialisiert, dass sie sie auf der Rückseite des Bildes aufgeschrieben hat.


Kaynak zeigt noch ein anderes Werk: Über einem Hintergrund aus blauen, gelben und roten Tupfern liegt ein Raster grüner, fast sternförmiger Waben. Auch ein Zufallsprodukt. Das grüne Raster war die Schablone eines Linoldrucks, die sie einfach über das andere Bild gelegt hat. Das Ergebnis war verblüffend. „Jetzt ist das für mich eine ziemlich genaue farbliche Entsprechung der türkischen Sprache“, sagt sie. Während des Studiums in den 80er Jahren hat sie Türkisch gelernt, später einen Deutschtürken geheiratet. Genau wie im Deutschen löst jeder Buchstabe, jedes Wortes, das sie auf türkisch hört oder spricht, ein farbiges Leuchten in ihr aus. Und es sind sehr viele schöne Farben darunter: „Die vorherrschenden Farben im Türkischen ist für mich das Grün der vielen Üs und Ös. Schon das Wort Türkiye sind von Grün getragen, gemischt mit dem gelben i und einem in diesem Fall nicht unangenehmen Rosa. Einfach schön“, sagt Kaynak. Im Vergleich dazu ist das Deutsche mit seinen vielen Konsonanten eher grau.


Und dann ist da noch ein Projekt, dass sich direkt dem Thema Synästhesie widmet. So groß und beschwerlich wie eine Forschungsreise in ein unzugängliches Gebiet. „Ich versuche, genau die Farben, die ich vor meinem inneren Auge sehe, auf Papier zu bringen“, sagt Kaynak. Begonnen hat das Ganze mit einer Übersetzung: Angeregt durch eine Freundin, die mehr über die synästhetische Wahrnehmung wissen wollte, hat Kaynak damit begonnen, das Volkslied „Guter Mond, Du gehst so stille“ in Farben zu übertragen. Für jeden Buchstaben hat sie ein andersfarbiges Kästchen gemalt. Mit dem Ergebnis ist sie höchstens halb zufrieden. Zu schematisch die Darstellung. Das – i – und andere schöne, leuchtende Buchstaben blieben in dem System eingeengt und genau gleichrangig mit den eher grauen Konsonanten, die sie in Wirklichkeit doch überstrahlen und mit zum Leuchten bringen.


Überhaupt die Farben: „Selbst, wenn die im ersten Moment stimmen, kann es sein, dass sie sich verändern, wenn sie trocken werden oder, dass sie mit der Zeit verblassen“, sagt Kaynak. Wie akribisch sie bei der Suche ist, kann man anhand der großen Blätter mit Farbmischungen erahnen, die sie im Laufe der Zeit angefertigt hat und die in ihrer Gesamtheit selbst zum großen Kunstwerk werden: Jedes Kästchen ein eigener Mischton. Mehrere 1000 solcher Farbnuancen hat sie festgehalten.

Aktuell experimentiert Eva Kaynak mit neuen Farben: Reine Pigmente, die sie mit Gummi Arabicum und Glycerin mischt. Jedes Pigment hat seine eigenen Eigenschaften bei Gewicht, Mahlfeinheit und Deckkraft. Daher braucht es für jede Farbe ein ganz eigenes Mischungsverhältnis. Die bisherigen Ergebnisse sind vielversprechend. „Die Leuchtkraft stimmt schon mal“, sagt Kaynak. Warum das mit der genauen Farbwiedergabe jetzt so wichtig für sie ist, weiß sie selbst nicht so genau.

Vielleicht sucht sie nach einer Möglichkeit, anderen ihre synästhetische Wahrnehmung näher zu bringen. Vielleicht geht es ihr aber auch darum, die Farben, die sie so lange vor anderen versteckt hat, ans Licht zu bringen. Damit endlich ein harmonisches Gleichgewicht zwischen äußerer und inneren Farbwelt entstehen kann.