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Porträt: Nackter Sozialstaat

Nacktmulle sind Säugetiere, aber haben ihre Kolonien wie Ameisen- oder Bienenstaaten organisiert. Die besondere Form der Kooperation hat das Herausbilden weiterer Besonderheiten begünstigt.

Von Ralf Stork

Bei Abstimmungen im Internet zum hässlichsten Tier der Welt landen sie bis heute immer auf den vordersten Plätzen. Alfred Russel Wallace, der Mitbegründer der Evolutionstheorie, soll die Art als „extraordinary ugly“, zu Deutsch außergewöhnlich hässlich, beschrieben haben und mit ihr als Inspiration den Begriff der evolutionären Sackgasse entwickelt haben. Die Rede ist vom Nacktmull,wissenschaftlich Heterocephalus glaber. Die Nagetiere leben in den Halbtrockenregionen des östlichen Afrikas in unterirdischen Kolonien mit bis zu 300 Individuen, werden fünf bis 15 Zentimeter groß und wiegen zwischen 30 und 50 Gramm. Sie sind weitgehend nackt, ihre faltige Haut wirkt mindestens eine Nummer zu groß für ihre kleinen, tonnenförmigen Körper. Und sie haben auffallend große Nagezähne. Seit ihrer wissenschaftlichen Beschreibung im Jahr 1842 haben sie es zu einer gewissen Berühmtheit gebracht – allerdings aus den falschen Gründen. Denn Nacktmulle haben weit mehr zu bieten als ein gewöhnungsbedürftiges Äußeres.

Alfred Russel Wallace: "Außergewöhnlich hässlich"

Nacktmulle weisen ein für Säugetiere sehr ungewöhnliches Sozialverhalten auf. „Eine Nacktmull-Kolonie ist ähnlich wie ein Bienenstock organisiert“, sagt Susanne Holtze, die als Biologin und Tierärztin am Leibniz Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin arbeitet. Die Königin steht in der Hierarchie ganz oben. Sie ist die Einzige, die Nachwuchs produziert. Ein bis drei Männchen in der Kolonie dürfen sie begatten. Die übrigen Tiere helfen bei der Aufzucht der Jungen, umsorgen die Königin, schaffen Nahrung herbei oder graben Gänge.

Am IZW werden die Tiere seit 2008 zu Forschungszwecken gehalten. In einem abgedunkelten Raum mit mollig warmer Temperatur leben 350 Nacktmulle in 13 getrennten Kolonien. Blickt man in eine hinein, ist in einer mit Sägespänen gefüllten Kammer ein großer, sich gegenseitig wärmender Klumpen schlafender Nacktmulle zu erkennen. Durch die Plexiglasröhren der Forschungsanlagen laufen die Mulle hin und her. Die Königin, heller, größer und buckliger als alle anderen Koloniebewohner, ist deutlich zu erkennen. Um die vielen ungeborenen Jungtiere in ihrem Leib unterbringen zu können, hat sie eine gewölbte Wirbelsäule, die währende der Trächtigkeit in die Länge wächst.

30 Jahre - biblisches Alter für Nagetiere

Die Königin wirft in der Regel vier Mal im Jahr durchschnittlich zehn bis 14 Junge. Weil der Nachwuchs etwa vier Wochen gestillt wird, ist sie beinahe durchgehend schwanger, säugend oder gar beides. Die Anzahl der Jungen pro Jahr ist nicht niedriger als bei anderen kleinen Nagetieren wie Hamstern oder Mäusen. Weil die Königin aber das einzige fruchtbare Weibchen ist, ist die Nachwuchsrate je Kolonie vergleichsweise gering.

„Die meisten kleinen Nagetiere sind sogenannte r-Strategen. Sie setzen auf eine hohe Reproduktionsrate, r, bei geringer eigener Lebenserwartung“, sagt Holtze. Mäuse, Hamster und andere haben viele Feinde. Ihr Leben ist darauf angelegt, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Nachkommen zu produzieren. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass trotz aller Gefahren wenigstens ein paar Jungtiere überleben. Weil die Chance, über einen längeren Zeitraum am Leben zu bleiben, ohnehin gering ist, liegt auch die natürliche Lebenserwartung mit zwei bis drei Jahren recht niedrig.

Nacktmulle dagegen gehören zu den sogenannten K-Strategen. K steht für Kapazitätsgrenze, denn die Population liegt relativ stabil an der Grenze dessen, was der Lebensraum hergibt. Nacktmulle haben außer Schlangen keine natürlichen Feinde und sind in ihrer Kolonie unter der Erde bestens geschützt. Das heißt, sie können es sich eher leisten, in eine höhere Lebenserwartung und eine intensivere Pflege der Jungtiere zu investieren. Mit 70 Tagen ist die Tragzeit länger als bei Hunden oder Katzen. Während der Schwangerschaft und erst recht während des Säugens der vielen Jungen ist die Königin auf Hilfe bei der Versorgung angewiesen.

Ursprung des Sozialsystems der Nacktmulle könnte deshalb ein Familienverband mit monogam lebenden Elterntieren und ihren Jungen gewesen sein, in dem sowohl der Partner als auch die älteren Jungtiere bei der Versorgung des Nachwuchses geholfen haben. „Die Lebenswelt außerhalb der Kolonie ist für die Nacktmulle ziemlich gefährlich. Da macht es Sinn, dass Tiere auch im erwachsenen Leben den Bau nicht verlassen wollen. Im Laufe der Evolution könnte sich das Familiensystem so zu dem heutigen eusozialen System weiterentwickelt haben“, sagt Holtze.

Theoretisch können alle Weibchen einer Kolonie trächtig werden, ihr Zyklus wird aber unterdrückt. Früher glaubte man, dafür seien Pheromone verantwortlich, die die Königin absondert. Diese Theorie ließ sich aber nicht belegen. Heute geht man eher davon aus, dass die Weibchen unfruchtbar bleiben, weil sie wegen der herrischen Königin unter ständigem Stress stehen. Die fordert von ihren Untergebenen unterwürfiges Verhalten: Bei einer Begegnung in einem der schmalen Gänge steigt immer das ranghöhere über das rangniedere Tier. Zeigt sich ein Untertan respektlos, wird er von der Königin verfolgt und drangsaliert. „Man kann auch hier im Labor beobachten, wie die Königin einzelne Tiere bedrängt und beißt, die sich nicht an die Etikette halten wollen“, sagt Holtze. Dieser tägliche Stress reicht offenbar aus, um die Weibchen unfruchtbar zu halten.

„Stirbt die Königin oder wird aus der Kolonie entfernt, kommt es zu sozialen Unruhen“, sagt Holtze. Die stärksten Weibchen kämpfen untereinander um die Vorherrschaft. In einem Labor soll ein Erbfolgekrieg in den 1980er Jahren 16 Monate gedauert und neun Todesopfer gefordert haben. Erst dann hatte sich eine neue Königin durchgesetzt. Am IZW lässt man es so weit nicht kommen. In der Regel versucht man, die Hauptaggressorin aus der Kolonie zu entfernen und mit ihr eine neue Kolonie zu begründen.

Monatelange Erbfolgekriege

Neben dem Sozialverhalten ist auch die Langlebigkeit der Nacktmulle bemerkenswert. Eine Königin kann 30 Jahre und noch älter werden. „Ausgerechnet die Königin, die so viel Energie für Schwangerschaften und fürs Säugen aufbringen muss, hat eine deutlich höhere Lebenserwartung als ihre Untergebenen“, sagt Holtze. Die übrigen Nacktmulle werden in Gefangenschaft häufig 20 Jahre alt. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung in freier Wildbahn liegt aber deutlich darunter.

Die Erforschung des gesunden Alterns bei Nacktmullen ist interessant, weil sich daraus wichtige Erkenntnisse für die Alterungsprozesse der Menschen gewinnen lassen. Gleiches gilt für die Krebsforschung. Denn anders als beim Menschen und vielen anderen Arten spielt Krebs als Krankheit oder Todesursache bei Nacktmullen bis ins fortgeschrittene Alter keine Rolle. Das könnte mit den Mitochondrien der Tiere zusammenhängen, also den Teilen der Zelle, die Energie herstellen. Beim Nacktmull behalten sie bis ins hohe Alter ihre ursprüngliche Form und Leistungsfähigkeit. Und auch die schützenden Endabschnitte der Chromosomen, die sogenannten Telomere, bleiben in den Blutzellen von Nacktmullen bis ins hohe Alter gleichlang oder verlängern sich sogar, während sie sich bei Menschen und Maus mit steigendem Alter zunehmend verkürzen.

Es gibt noch weitere bemerkenswerte Eigenschaften der Tiere: Sie kommen lange ohne Sauerstoff aus. In Versuchen in einem Labor in Chicago hat sich gezeigt, dass die Tiere 18 Minuten ohne Sauerstoff überleben können. Wird die Luft knapp, fallen die Nacktmulle in eine Art Winterschlaf. Das Herz schlägt statt 200 Mal nur noch 50 Mal pro Minute. Diese Fähigkeit könnte sich entwickelt haben, weil häufig alle Tiere einer Kolonie zusammengedrängt in einer Kammer liegen und schlafen. Da ist die Luft zum Atmen schnell verbraucht. Und anders als bei den allermeisten Säugetieren und Vögeln ist ihre Körpertemperatur nicht konstant. Sie schwankt je nach Außentemperatur zwischen 12 und 32 Grad Celsius.
Dass eine Art so viele einzigartige Eigenschaften hervorbringt, ist für sich genommen schon wieder einzigartig. Am Anfang dieser Sonderentwicklung steht wahrscheinlich das unterirdische Leben: Nacktmulle leben in einer ziemlich sicheren Nische mit konstanten Umweltbedingungen unter der Erde. Dieses Leben funktioniert vor allem in einem großen Familienverband mit Arbeitsteilung. “Die Eusozialität trägt zur Stabilität der Kolonie und zum Überleben ihrer Mitglieder bei. Diese Stabilität ist Voraussetzung für eine Selektion auf Langlebigkeit”, sagt Susanne Holtze.

Unter derart stabilen und ungestörten Bedingungen haben sich dann weitere Besonderheiten herausbilden können.