Norbert Schneeweiß streift ein Paar schwere Lederhandschuhe über, die fast bis zum Ellenbogen reichen. Eigentlich will er die große offene Senke im Wald nur kurz inspizieren. Aber man kann ja nie wissen. Vielleicht hat er Glück und eine der letzten Kreuzottern der Region schlängelt vor ihm durch die Sonnen beschienene Vegetation. Mit den Handschuhen könnte er sie gefahrlos einfangen und an einen besseren Ort bringen. Die offene Senke liegt in der Uckermark und ist eigentlich ein See. Wasser gibt es wegen der anhaltenden Trockenheit aber schon seit Jahren nicht mehr. Dass sich daran in Zukunft noch mal etwas ändert, ist eher unwahrscheinlich.
„Eigentlich ist das hier bester Kreuzotterlebensraum", sagt Schneeweiß, der die landesweite Kartierung von Reptilien und Amphibien koordiniert und sich im Verein Agena ehrenamtlich um selten gewordene Schlangen und andere Reptilien kümmert. Deutschlands einzige weit verbreitete Giftschlange braucht dicht beieinander feuchte, kühle und trockene, warme Lebensräume: Die Nähe des Wassers sorgt für hohe Luftfeuchtigkeit und verhindert das Austrocknen der Haut. Warme, sonnige Plätze sind wichtig für sie, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Wie alle wechselwarmen Tiere regulieren die Schlangen ihre Körpertemperatur und damit auch ihr Aktivitätslevel über die Außentemperatur.
Mit Hilfe der lokalen Förster hat der Verein Agena den Waldrand in den vergangenen 20 Jahren so gestaltet, dass die Reptilien sich dort wohlfühlen: Die Waldkante wurde aufgelockert, so dass es dort jetzt mehr sonnige Plätze gibt. Ein Teil der gefällten Bäume bleibt liegen und dient den Schlangen nun als Versteck - genau wie mehrere mit Reisig aufgefüllte Gruben. Die Fläche zwischen See und Wald ist so zum idealen Refugium für Reptilien geworden. Das sieht man schon daran, dass es zwischen den trockenen Halmen vor Wald- und Zauneidechsen nur so wimmelt. Aber weil der See ausgetrocknet ist, machen sich die Schlangen rar. Die ehemalige Wasserfläche wird jetzt von Wildschweinen als Versteck genutzt. Für die Schlangen ist das doppelt schlimm: Statt des überlebenswichtigen Wassers sind jetzt die Wildschweine da, auf deren Speisekarte auch Kreuzottern stehen.
Bei der knapp einstündigen Suche zeigt sich nicht eine Schlange. Die Population in der Uckermark befindet sich in Auflösung. Weil die Bedingungen immer schlechter werden, wandern die Tiere ab. Die Chancen, dass sie in näherer Umgebung bessere Lebensräume finden, stehen allerdings ziemlich schlecht. „Anfang des Jahres haben wir uns deshalb entschieden, die verbliebenen Tiere einzufangen", sagt Schneeweiß. Wenn schon die bestehende Population in der Uckermark keine Zukunft mehr hat, sollen die letzten Überlebenden wenigstens dazu beitragen, dass die Art im Land erhalten bleiben kann. „Wir wollen mit den Tieren eine dauerhafte Zuchtgruppe aufbauen", sagt Schneeweiß. Es wäre die erste in Deutschland.
Eine Stützung der Population durch Auswilderungen ist wichtig, denn nicht nur in der Uckermark gibt es immer weniger Kreuzottern. Nach Schneeweiß' Schätzungen ist der Bestand in ganz Brandenburg auf wenige 100 Tiere gesunken. Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Schlangen noch so weit verbreitet, dass Kopfprämien auf sie ausgesetzt wurden. Einzelne Schlangenfänger erlegten in ihrer Laufbahn 20.000 bis 30.000 Kreuzottern. Deutschlandweit steht die Kreuzotter heute als „stark gefährdet". Nach der Roten Liste in Brandenburg und einigen anderen Bundeländern ist sie „vom Austerben bedroht". Hauptgründe dafür sind neben der Entwässerung von Mooren und dem Klimawandel die Zerschneidung des Lebensraums.
Der Ort für die Zuchtgruppe ist bereits gefunden. Ein paar Kilometer von dem trockenen See entfernt nutzt Agena bereits ein Grundstück im Wald, um Europäische Sumpfschildkröten auf die Auswilderung vorzubereiten. Im Frühjahr hat der Verein dort auch ein großes Schlangengehege gebaut - fast 40 Quadratmeter groß, das den Lebensraum der Kreuzottern im Kleinformat nachbildet: Es gibt Reisig- und Steinhaufen zum Verstecken, einen flachen Teich und viele, offene, sonnenbeschienene Flächen. Die Heinz Sielmann Stiftung unterstützt das Projekt über fünf Jahre mit insgesamt 25.000 Euro. „Wir freuen uns, mit unserem Engagement dazu beitragen zu können, dass eine extrem gefährdete Art wie die Kreuzotter im Land überleben kann", sagt Dr. Heiko Schumacher, der in der Stiftung den Bereich Biodiversität leitet. Durch den Erhalt und Schutz von Mooren als bevorzugten Lebensraum der Schlangen helfe man auch vielen anderen bedrohten Arten und leiste einen Beitrag gegen den Klimawandel. „Intakte Moore können große Mengen an CO2 binden. Außerdem sind sie wichtiger Lebensraum für Kranich, Schwarzstorch und viele Amphibien und Insekten", sagt Schumacher.
Immerhin zehn Schlangen konnten Schneeweiß und seine Kolleginnen und Kollegen in diesem Jahr bereits fangen. Sechs erwachsene Schlangen und vier Jungtiere leben bereits in dem Gehege. Weil das zu wenig ist für eine Zuchtgruppe, soll die Suche bis zum kommenden Frühjahr weitergehen. Eventuell muss die Gruppe auch um Einzeltiere aus anderen Vorkommen im norddeutschen Tiefland ergänzt werden. „Unser Ziel ist, dass wir im kommenden Jahr so viele Tiere haben, dass wir mit der Zucht beginnen können", sagt Norbert Schneeweiß. Die ersten Schlangenbabys könnten dann bereits 2021 zur Welt kommen.
Schon jetzt sind Norbert Schneeweiß und seine Mitstreiter auf der Suche nach einem geeigneten Biotop. „Hier in der Uckermark gibt es noch eine Reihe von Flächen, die für Kreuzottern gut geeignet wären", sagt Schneeweiß. Wo die Seen noch so viel Wasser haben, dass sie nicht in ein paar Jahren ausgetrocknet sind und wo es offene Moore und besonnte Waldränder gibt, auf denen die Schlangen sich sonnen können. Eine Auswilderung macht allerdings nur dann Sinn, wenn sich die Reptilienfreunde mit den Förstern vor Ort auf konkrete Schutzmaßnahmen verständigen. Oder wenn der Verein die Möglichkeit hat, ein paar Hektar Land zu kaufen, auf denen sie dann selbst die Schlangen schützen können. Erste Sondierungen in diese Richtung laufen schon. In drei oder vier Jahren könnten dann die ersten Schlangen wieder in die Freiheit entlassen werden. Die Erfahrungen, die der Verein mit der Zuchtgruppe macht, können später dazu beitragen, der Schlange auch in anderen Regionen zum Comeback zu verhelfen.
Der Text ist im Auftrag der Heinz Sielmann Stiftung entstanden