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Der Tanz in den Weltuntergang

Superstar Prince hat jahrelang den Weltuntergang und das Ende der Zeit besungen. Damit prägte er das Lebensgefühl einer ganzen Generation.

Rückblickend erscheint es wie eine Vorsehung: Exakt eine Woche vor seinem Tod covert Prince in Toronto während seines letzten Konzerts David Bowies legendären Song «Heroes». Aus dem Tribut für den im Januar verstorbenen britischen Superstar wurde unerwartet der musikalische Abschied des amerikanischen Supertalents aus Minnesota. «Mit Bowie starb das Hirn, mit Prince die Seele der Popkultur», kommentierte ein Fan auf Facebook kurz nach Bekanntwerden des Todes eines weiteren Superstars.

Bowie war eine intellektuelle Popfigur. Zwar hatte er nicht Bücher geschrieben oder sich in politische Debatten eingemischt, dafür bot er durch seine permanente performative Wandlung, des Sich-ständig-Neuerfindens und seiner technologischen Innovationskraft genügend Stoff, damit andere Intellektuelle und Journalisten über ihn schrieben. Prince dagegen prägte die Popkultur seit seinem Début 1978 durch sein androgynes Äusseres, das sich zwischen James Brown, Santana und Jimmy Hendrix bewegte sowie seinen Sprüngen zwischen musikalischen Genres von psychedelischem Sixties-Rock bis futuristischem Electronic-Sound.

Tempowechsel der Generation X

Der Verlust von Bowie und Prince – innerhalb kürzester Zeit – markiert einen Wendepunkt einer ganzen Generation, der Generation X. Menschen dieser Generation – dazu zähle auch ich – sind zwischen 1965 und 1980 geboren. Sie verlieren nun mit Prince eine weitere Figur, die massgeblich ihr Bild von Pop- und Subkultur geformt – und auch genormt hat. Während Michael Jackson und Madonna in den Achtzigern und Neunzigern die Popkultur eher oberflächlich durch neue choreographische Tanzschritte berührt und beeinflusst hatten, prägten Bowie und Prince die globale Kultur in einem tieferen Sinn. Die ständige körperliche und modische Wandlung der beiden Künstler von Album zu Album liest sich wie eine Metapher zu den damals einsetzenden Veränderungen der Gesellschaft. Während frühere Generationen sich in wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit wähnten, gesellschaftliche Veränderung noch viel gemächlicher vonstatten gingen, wuchs die Generation X in einer Zeit auf, in der sich Modeströmungen, Trends und gesellschaftliche Prozesse beschleunigten. Paradoxerweise trugen beide Künstler ihrerseits zu diesem Tempowechsel bei, da sie selbst durch neue Mode- und Musiktrends stilbildend für Jugendkulturen waren.

Popstar Prince ist noch vor einem weiteren Hintergrund bemerkenswert. In seinen Texten spiegelten sich insbesondere die sozialen und gesellschaftlichen Probleme sowie neuen medialen Möglichkeiten der Generation X wider. Diese Generation, die musikalisch und popkulturell vorwiegend durch MTV, generell durch das damals aufkommende Privatfernsehen sowie neue Radiostationen sozialisiert wurde. Der Generation X war es durch neue Medienkanäle erstmals möglich, Pop- und Rockmusik praktisch rund um die Uhr zu konsumieren. Ganz anders die Generation davor, die Baby-Boomer. Diese Nachkriegsgeneration hatte während ihrer Jugend in den späten 60ern- und 70er-Jahren nur begrenzten und punktuellen Zugang zu Popkultur. Einerseits wuchsen die Babyboomer mit beträchtlich weniger Medien- und Kulturangeboten heran. Andererseits war die Gesellschaft trotz sexueller Revolution noch immer starr und einer sozialen Kontrolle unterworfen. Jugendliche Babyboomer, die Rockmusik hörten, galten als asoziale Hippies, die sich gegen Gesellschaft und Staat auflehnten und deshalb administrativ versorgt gehörten.

«No Future»-Mentalität

Neben den neuen Möglichkeiten des kulturellen Zeitvertreibs war die Generation X die erste Altersgruppe, in der die utopischen Fortschritts- und Wachstumsvorstellungen ihrer Eltern ein abruptes Ende fanden. Viele Menschen mussten konsterniert feststellen, dass ihre Eltern – trotz Wirtschaftswunder, Flower Power und sexueller Emanzipation – die Welt nicht verbessern konnten. Erstmals wuchs eine Generation heran, die zwar ohne Krieg lebte, sich dafür aber mit weniger Wohlstand und ökonomischer Sicherheit begnügen musste als ihre Elterngenerationen. Zukunftsoptimismus wurde verdrängt durch Perspektivlosigkeit und Endzeit-Szenarien. Und genau hier kommt Princes «No Future»-Mentalität. 1982 veröffentlichte Prince sein Weltuntergangs-Album «1999» und landete mit dem Titelsong gleichzeitig seinen ersten Megahit. 1999, aus der Perspektive von 1982 ein Jahr, das nach Auffassung von Prince den Weltuntergang, die totale Apokalypse bedeutete.

In den Achtzigerjahren dominierten global mehrere deprimierende Ereignisse: Die Politik wurde nach neoliberalem Denken durch Vertreter wie US-Präsident Ronald Reagan, atomares Wettrüsten zwischen den USA und der UdSSR sowie die Furcht vor einem Atomkrieg bestimmt. Gesellschaftlich lösten die neue Zivilisationskrankheit Aids, Bandenkriege und Crack-Epidemien in US-Grossstädten wie New York Ängste aus. Auf der technologischen Ebene liessen das Tschernobyl- sowie Space-Shuttle-Unglück am Fortschritt der Gesellschaft zweifeln.

Princes Antwort auf die Resignation einer ganzen Generation war simpel: «Das Ende ist nahe. Was sollen wir tun? Tanzen!» Das einzige Mittel gegen diese hoffnungslose Traurigkeit sei Tanzen und das Feiern von rauschhaften Parties. «Das Leben ist eine Party», meinte Prince einst als Kontrapunkt zur «schlechten Welt».

Prince bestimmt Normkultur

Wer folgt auf Prince? Jay-Z, Beyoncé, Justin Bieber und Timberlake, Lady Gaga, Rihanna? Wohl kaum. Derzeit gibt es weltweit keine Künstler oder Künstlerinnen, die im selben Ausmass kreativ und produktiv, einflussreich und exzentrisch sind wie Prince es war. Heutige Popstars sind kurze Phänomene, die nicht über mehrere Jahrzehnte im Geschäft bleiben. Aktuelle Künstler beeinflussen nicht mehr, sie sind beeinflusst durch die Musik von Prince. Kein anderer Künstler hat Musikerinnen und Musiker musikalisch so stark beeinflusst wie er. Sein Einfluss ist heute – bewusst oder unbewusst – auf allen Kanälen der populären Musikkultur erkennbar.

Falls sein Tod etwas Positives hat, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass nun auch die jüngere Generation Y seine Musik über Hits wie «Kiss» und «Purple Rain» hinaus entdeckt. «Wer folgt auf Prince?», ist eine Frage, die noch in einer anderen Bedeutung derzeit auf den sozialen Medien spekuliert wird. Wer ist der nächste Popstar, der stirbt?

Gehäufte Todesfälle unter Künstlern hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Auch die Babyboomer wurden nicht verschont. Sie müssen sich 1970 ähnlich verlassen gefühlt haben, als Jimmy Hendrix, Janis Joplin und 1971 auch noch Jim Morrison kurz hintereinander gestorben sind. Prince würde sagen: «There is a dark side of everything.»


Erschienen im St. Galler Tagblatt