Philipp Awounou

Journalist & Fotograf , Köln

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Marshawn Lynch: Biest mit weichem Herzen

Jurrell Casey ist einer der besten Verteidiger der NFL. Ein Fleischberg, 138 Kilogramm schwer. Casey ist erfahren und spielintelligent, und als er die Lücke in der Verteidigungsreihe seiner Tennessee Titans bemerkt, setzt er seine Masse umgehend in Bewegung. Er will den heranstürmenden Runningback aufhalten, der das Schlupfloch ebenfalls erkannt hatte: Marshawn Lynch.

Lynch, 98 Kilo schwer, hat mehrere Optionen. Ausweichen, eine Körpertäuschung, vielleicht ein Richtungswechsel. Doch er entscheidet sich für das, was er am besten kann: Er läuft unbeirrt weiter und rennt Casey mit dem Kopf voraus über den Haufen. Der Verteidiger geht zu Boden wie ein ausgeknockter Boxer, Lynch spurtet weiter und wird von den Titans erst fünf Yards später mit vereinten Kräften zu Fall gebracht. Da war er wieder: der "Beast Mode".

"Meine Hochachtung dafür, wie Lynch hierherkommt und uns überrennt", sagte Casey im Anschluss ehrfürchtig. 26:16 siegten die Oakland Raiders zum Auftakt der neuen Saison, einer der Garanten des Erfolgs war Lynch, der in 18 Läufen 76 Yards zurückgelegt hatte - bei seinem Comeback nach rund 20 Monaten im Football-Ruhestand.

Im Vorfeld der Partie war viel über die Leistungsfähigkeit des Manns mit den Rastazöpfen diskutiert worden. Schließlich kehrte nicht irgendein Spieler zurück in die NFL, sondern eine der prägenden Figuren der jüngeren Ligageschichte: Über 9000 Yards hatte Lynch in acht Jahren für die Seattle Seahawks und die Buffalo Bills erlaufen, dabei 83 Touchdowns erzielt. Elitäre Werte, und doch geben sie nur in Ansätzen wieder, welch ein Hype zeitweise um Lynch herrschte: Seine kraftvolle, spektakuläre Spielweise begeisterte die Massen, schon zu Collegezeiten brachte sie ihm den berüchtigten Spitznamen "Beast Mode" ein.

Was Lynch auf dem Feld ausmacht, verdeutlicht kaum eine Szene besser als das "Beast Quake" von 2011: Gegen die New Orleans Saints kam der Runningback nahe der eigenen Endzone an den Football, walzte zwei Gegenspieler nieder und durchbrach damit die Verteidigungslinie. Anschließend wehrte Lynch sieben weitere Tackles ab und zog nach 67 Yards in die Endzone ein zum entscheidenden Touchdown, der seine Seahawks in die Play-offs brachte. Der Jubel der Fans war so laut, dass ein Seismograph in Stadionnähe ein leichtes Erdbeben registrierte. (Der Touchdown ab Minute 1:38 im Video)

Zum Ende der Saison 2015/2016 erschütterte Lynch die Liga auf andere Weise. Der damals 29-Jährige hatte das gesamte Jahr über mit Verletzungen zu kämpfen, nur siebenmal konnte er für die Seahawks auflaufen. Zahllose Rehamaßnahmen raubten Lynch die Lust am Spiel, so sehr, dass er beschloss, seine illustre Karriere zu beenden. Vorläufig.

Lynchs Traum wird Wirklichkeit

Mit 31 Jahren ist das "Biest" zurückgekehrt. Es war jedoch nicht primär die Gier nach Titeln oder Geld, die den Superbowlgewinner von 2013 zurück auf den Rasen trieb. Motiviert hat ihn vor allem die Verbundenheit mit seiner Geburtsstadt Oakland. Lynch ist in seiner Heimat stark verwurzelt, unter anderem mit mehreren Initiativen für sozial Benachteiligte in den Kommunen. Er gehört zu den Helden einer Stadt, die im Schatten der Kulturmetropole San Francisco und abseits des innovationskräftigen Silicon Valley den weniger hippen Teil der Bay Area verkörpert: arm, industriell, rückständig, grau. Sinnbildlich für Oaklands Tristesse steht das "Black Hole"; das alte, baufällige Stadion der Raiders.

Superstar Lynch stört das nicht. Für ihn war klar: Wenn er noch einmal in der NFL auflaufen sollte, dann ausschließlich für die Raiders, bevor diese 2019 nach Las Vegas ziehen. Schon im März keimten entsprechende Gerüchte auf, Ende Juni wurde es dann offiziell: Lynch unterschrieb tatsächlich einen Zweijahresvertrag in Oakland - und zeigte sich im Anschluss überglücklich: "Ich bin hier aufgewachsen, bin hier die Gassen runtergerannt, habe hier alles durchgemacht. Und jetzt bekomme ich die Chance, hier noch einmal zu spielen. Damit erfüllt sich ein Traum für mich."

Es ist eine Rückkehr mit Seltenheitswert: Im profitorientierten US-Sportwesen eröffnet sich nur wenigen Athleten die Möglichkeit, ihren Arbeitgeber nach emotionalen Kriterien selbst zu bestimmen. Lynch scheint sich dieses Glücks bewusst und lieferte bislang vielversprechende Leistungen: Auf seine 76 Yards gegen die Titans folgten 45 gegen die New York Jets. Lynch hat seine Furchtlosigkeit nicht verloren, noch immer braucht es meist mehr als einen Verteidiger, um den sturzresistenten Runningback zu Fall zu bringen. Aktuell erzielt er sogar mehr Yards pro Lauf (4) als in seiner vorherigen aktiven Spielzeit (3,8).

Dennoch scheint Lynchs Zenit überschritten. Die Athletik schwindet allmählich, der beste Runningback der Liga, der er in seiner Blütezeit vor der Verletzungsmisere gewesen war, ist er nicht mehr - allerdings hatte das angesichts seines fortschreitenden Alters auch keiner erwartet.

Abseits des Felds performt der Kalifornier derweil wie zu besten Zeiten: Er polarisiert. Seine spontane Tanzeinlage während des 45:20-Kantersiegs gegen die Jets amüsierte viele Fans, wurde stellenweise aber auch als unsportlich interpretiert. Eine Woche zuvor hatte sich Lynch aufgrund einer obszönen Geste eine 12.000-Strafe eingehandelt. Seine teils vulgäre Ausdrucksweise wird bald gar die Grundlage seiner eigenen Reality Show bilden. Überdies gehört der Afroamerikaner zu den wenigen, die als Zeichen gegen Rassismus den Hymnenboykott des ehemaligen NFL-Spielers Colin Kaepernick fortsetzen. Darauf angesprochen, bestätigte Lynch seinen Ruf als meist gefürchteter Interviewpartner der NFL: Anstatt auf die Fragen einzugehen, referierte er über beliebige Spielzüge seines Teams.

Lynch ist eben Lynch - damals wie heute. In Oakland ist man erfreut, einen erfahrenen NFL-Veteranen mit Kultstatus reanimiert zu haben, der den jungen Raiders auf der Jagd nach dem Titel tatsächlich helfen kann. Und obwohl es für zuverlässige Leistungsbeurteilungen nach zwei Spieltagen noch recht früh ist, lässt sich bereits festhalten: Es steckt noch viel "Beast" in Lynch. Und eine Menge Herz sowieso.

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