Klaus Lemke polarisiert: Die einen lieben seine sexy
Loser-Balladen, die anderen können mit Laiendarstellern und
improvisierter Handlung wenig anfangen. Wie arbeitet der unverwüstliche
"Rocker"-Regisseur? Peter Luley besuchte den Outlaw des deutschen Filmgeschäfts am Set in Hamburg.
Es ist Samstag, der 29. September, als ich die erste SMS von Klaus Lemke bekomme: "Heute datscha-party im fundbureau. Vorbesprechung 18 bis 19 uhr. Dann dreh ab 2 uhr früh. Wenn du willst: trinken wir n kaffee um 19 uhr. Yours Klaus." Der Regisseur ist seit 48 Stunden in der Stadt, will sein neues Filmprojekt mit dem Arbeitstitel "Der Frauenflüsterer" realisieren - und hat uns versprochen, seinen Schaffensprozess begleiten zu dürfen. Oder auch das Scheitern: Da der 67-Jährige wie immer ohne ausformuliertes Drehbuch, mit Laiendarstellern und einem von ihm selbst vorgestreckten Minimalbudget von 50.000 Euro arbeitet, kann die Unternehmung durchaus platzen. So wie sein letztes Vorhaben "Schmutziger Süden", bei dem die Chemie zwischen den Mitwirkenden nicht stimmte, Lemke einmal mehr feststellte, "dass ich München auserzählt habe", und das Experiment kurzerhand abbrach.
Deshalb ist der in Schwabing lebende Filmemacher, der einst mit Werken wie "Idole" und "Amore" die Münchner Milieukomödie begründete, wieder nach Hamburg gekommen - in die Stadt, die ihm, wie er sagt, nicht nur den Kultfilm "Rocker" (1971) "geschenkt hat", sondern auch jene jüngeren Kiezfresken, die seine aktuelle Renaissance einleiteten: die WDR-Produktionen "Drei Minuten Heroes" und "Träum' weiter, Julia" (beide 2005) sowie die mit viel Sex angereicherte WM-Stimmungsstudie "Finale" (ZDF, 2006). Diesmal will Lemke neues Terrain erkunden: das Milieu der Russen und Russlanddeutschen. Als einen Protagonisten hat er sich daher den szenebekannten Mitbegründer des Party-Komitees "Datscha-Projekt", DJ Rodion Levin, ausgeguckt. Der gebürtige St. Petersburger legt heute Nacht seine feine russische Tanzmusik auf, und um zwei Uhr, dem mutmaßlichen Siedepunkt der berüchtigt exzessiven Datscha-Partys, will Lemke Witterung aufnehmen. "Vielleicht taugt das als Intro für den Film", mutmaßt der Mann mit der imposanten Boxer-Nase.
Drehbuch-Ideen auf unzähligen Post-its
Die Location stimmt ihn schon mal positiv: Das "Fundbureau" ist ein Tunnelgewölbe direkt an einer Hauptverkehrsstraße im Bermuda-Dreieck zwischen Altona, St. Pauli und Eimsbüttel. Wenn über dem Gebäude die S-Bahn Richtung Sternschanze entlangdonnert, vibrieren auf dem Tresen die Flaschen. "Wie in New York" sei das, freut sich Lemke über so viel abgewrackte Urbanität, "mehr geht ja gar nicht." Der Regisseur präsentiert sich in seinem obligatorischen Outfit aus Jeans, T-Shirt plus Trainingsjacke und tief ins Gesicht gezogener Schiebermütze, mit festem Händedruck - und in nervöser Lauerstellung.
Um bei der Arbeit fit zu sein, übt sich der renommierte Lebemann in Askese: Während der gesamten Drehzeit hat er sich Alkohol-Abstinenz verordnet und lässt sogar das Rauchen sein. Stattdessen steht er jeden Tag um fünf Uhr auf, verlässt sein Hotel im Hafenviertel und geht an der Elbe spazieren: "Da denke ich mir aus, was am Tag gedreht wird." Die Ideen hält er auf unzähligen Zetteln und Post-its fest, die an der Wand seines Hotelzimmers allmählich zu kleinen Kolumnen anwachsen. Anschließend informiert er seine Darsteller, wann und wo sie sich zum Drehen einfinden sollen.
Dass diese semi-spontane Arbeitsweise überhaupt funktionieren kann, liegt auch daran, dass Lemke nur einen Kamera- und einen Tonmann zum Drehen braucht - keine Absperrungen, keine Lkws, keine Maske, kein Licht. Als er planmäßig um zwei Uhr früh die Polka tanzende Menge abfilmt, kriegen die meisten gar nicht mit, dass gedreht wird. Noch allerdings fehlt eine klare Vorstellung davon, wie der Film aussehen soll: Außer Rodion ist lediglich Saralisa Volm gesetzt, die 22-jährige Hauptdarstellerin aus "Finale" . Sie soll der Grundidee zufolge eine persönlichkeitsgestörte Sexbombe verkörpern, die allen, mit denen sie sich einlässt, Unglück bringt - wohl auch dem armen Rodion.
Jeder nur 50 Euro
Dass das neue Lemke-Werk eher keine Komödie wird, bestätigt sich am 9. Oktober: "Unser Film hat ab heute einen neuen Titel", simst der Regisseur: "Dancing with Devils". Wenig später folgt auf demselben Weg ein "Kurzinhalt", eine Art Kondensat aus den bunten Zetteln an der Wand: "Saralisa ist ein sich selbst hassendes Monster, das sich von seinen schlimmsten Teufeln zu befreien versucht, indem es die in andere verpflanzt und dort bekämpft", fasst Lemke die Quintessenz des Geschehens zusammen.
Beim nächsten Treffen kristallisiert sich heraus, dass russische Befindlichkeiten eine weniger wichtige Rolle spielen werden, destruktive Liebeswirren und ausgiebiger Kokain-Konsum dagegen umso mehr. Die Figuren haben sich halt anders entwickelt. Lemke ist gleichwohl zufrieden: Er weiß jetzt, dass alle Beteiligten miteinander können - inzwischen sind auch die bereits bewährten Nina Schwabe und Kiez-Wirt Stefan Witte mit von der Partie -, und dass das Material, das er nach jedem Drehtag sichtet, etwas hergibt.
Entsprechend euphorisiert, schimpft er nach Kräften über die "kreativitätskillende und korrumpierende" Wirkung des deutschen Filmförderungssystems, das mit Steuermitteln nur laue Kompromisse hervorbringe, und preist die eigene "50-Euro-Methode": Exakt diese Summe erhält jeder Mitwirkende an einem Lemke-Film pro Tag - Statist wie die Hauptdarsteller. "So vermeide ich jegliche Gelddiskussion", erklärt der Boss und fingert wie zum Beweis diverse zerknüllte Fünfziger aus seiner Hosentasche. Lemke, der zwischen seinen Fernseharbeiten schon mal Surf-Werbevideos dreht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ist da ganz im Einklang mit sich selbst. Keine Förderung heißt schließlich auch: keine Kontrolle, keine Eingriffe, keine Rechtfertigungen. Das ist die Freiheit, die er meint - und weil das keine Koketterie, sondern eine Haltung ist, gerinnt es ihm nicht mal zur Pose, dass er männliche Gesprächspartner grundsätzlich mit "Cowboy" anredet.
Kantiger Zeremonienmeister
So muss man gar nicht seine Amouren mit Brigitte Bardot und Iris Berben beschwören oder die Anekdoten über seine WG-Erfahrungen mit Andreas Baader erzählen, um Klaus Lemkes Aura zu entfalten. Es reicht völlig aus, ein Foto-Shooting mit der Crew in der "Cobra-Bar" auf St. Pauli mitzuerleben. Während Saralisa und Nina sich ein Glas Sekt zum Lockermachen gönnen, fordert Lemke "jetzt mal ein Rock-'n'-Roll-Bild" und bittet Wirt Stefan um die passende Musik. Dem gelingt mit Amy Winehouse ein guter Griff, und schon kann das Dekolleté der Hauptdarstellerin mit Lust und Laune ins rechte Licht gerückt werden.
Über allem liegt spürbar der Wunsch, gemeinsam das Bestmögliche zustande zu bringen - der kantige Zeremonienmeister erweist sich dabei als einfühlsamer Menschenfreund. Die Mädchen haben Lemkes Arbeitsweise ohnehin beeindruckend verinnerlicht. Die Frage, ob es nicht schwierig sei, am Morgen noch nicht zu wissen, was man am Abend drehen soll, kontert Nina Schwabe cool: "Man weiß doch sowieso nie, was im Leben als Nächstes passiert." Und Saralisa findet für den Lemke-Workflow so schlichte wie schöne Worte: "Ab einem bestimmten Zeitpunkt drehen nicht mehr wir den Film, sondern der Film dreht uns."
Eine Ahnung davon, wie das Ergebnis aussehen könnte, bekomme ich am Sonntag, dem 18. November: "Raffkatt um 17 Uhr möglich", simst Lemke, und wir verabreden uns mit seinem portugiesischen Kameramann Paolo da Silva zur Rohschnitt-Sichtung, dem rough cut, im Hotel. 40 Minuten sind zu begutachten, und bei allen Unfertigkeiten, die für dieses Stadium charakteristisch sind - hier und da fehlt noch ein Übergang; die St.-Pauli-Hymne "La Paloma" dient als Platzhalter für alle künftigen Musik-Einspielungen -, wird deutlich, dass "Dancing with Devils" funktioniert: Intensiv und echt sind die Szenen - und meistens auf den Punkt gespielt.
Es gibt köstliche Miniaturen (wenn Saralisa und Rodion sich beim Zähneputzen an einem öffentlichen Wasserspender begegnen, auf dem der Aufkleber "Elvis lebt... in Altona" prangt) und unter die Haut gehende Gewaltszenen (wenn Saralisa ihre Nebenbuhlerin Nina in einer Tiefgarage mit vorgehaltener Waffe zum Oralsex zwingt). Vor allem aber zeigt sich hier exemplarisch, was einen fesselnden Film ausmacht: Interesse für das Geheimnis seiner Figuren, das Offenlassen von Projektionsflächen für den Zuschauer. Auch ein ZDF-Mann sei schon da gewesen und habe sich angetan gezeigt, berichtet Lemke - er erhält jetzt eine Absichtserklärung des Senders, den Film zu kaufen. Mit dem Schreiben wiederum leiht er sich das Restgeld für die Endbearbeitung. Zwei weitere Wochen Dreh sind avisiert, dann geht's zum Schneiden ins Atelier seines bayerischen Kollegen Franz Xaver Gernstl.
Anders als der düstere Filmplot, den Lemke selbst in unnachahmlicher Diktion als "Ballade über die Generation 'Schöner losen' im Stil einer Schnellschuss-Moritat" bezeichnet, dürfte die Unternehmung somit in künstlerischer wie ökonomischer Hinsicht ein Happy-End finden. "Ich bin jetzt 67, mache also noch etwa 13 Jahre Filme", erklärt Lemke, der alte Partisan, beschwingt. Als Nächstes will er mit Saralisa in Miami drehen. Wer seine Energie erlebt hat, mag diese Prognose nicht in Zweifel ziehen.
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