In dieser Reihe berichten geflüchtete Journalisten über ihr neues Leben in Österreich.
*** English version below. ***
Im Iran hat sich der Begriff "kulturelle Differenzen" seit April 2012 zu einem geflügelten Wort entwickelt und wird manchmal auch als Witz verwendet. Damals war ein iranischer Diplomat wegen Kindesmissbrauch in Brasilien angeklagt. Die brasilianische Polizei verhaftete ihn und schickte ihn, auf Grundlage des iranischen "charge d'affaire" nach Teheran zurück. Das iranische Außenministerium verfasste sofort eine Aussendung, in der erklärt wurde, dass der sexuelle Missbrauch mit "kulturellen Differenzen" in Verbindung stehe. Obwohl das unsittliche Berühren eines Kindes nie als "Kultur" im Iran akzeptiert war, musste sich dieser Diplomat für sein Vergehen nicht vor einem Gericht verantworten.
Seit Jahren zwingt das Gesetz, iranische Frauen in der Öffentlichkeit eine Hijab zu tragen. Es wurde als Vorsichtsmaßnahme eingeführt, um "kulturelle Differenzen" zu verhindern. Frauen ist es untersagt, ihre Haare oder andere Körperteile auf der Straße, in der Universität oder am Arbeitsplatz offen zu zeigen. Sie müssen in separaten Abteilen in Bussen oder U-Bahnen sitzen, um jeden körperlichen Kontakt mit Männer zu vermeiden.
Des Weiteren haben Frauen kein Recht, zu singen. Sie dürfen seit Kurzem auch keine Musikinstrumente mehr spielen. All das nur, weil Männer vielleicht eine Sünde begehen könnten, wenn sie die Stimme einer Frau hören würden. Und ja, es ist wahr, iranische Männer belästigen Frauen auf den Straßen Teherans mit ihrem Mund, den Händen und ihren Augen. Sie tun es, weil— laut Gesetz—sexueller Missbrauch nicht die Schuld des Mannes, sondern die der Frau ist—wenn sie sich nicht an die Regeln des angemessenen Benehmens hält. Auch zählt die Aussage einer Frau vor Gericht nur zur Hälfte.
Seit fünfzehn Monaten lebe ich jetzt in Wien und sehe iranische Männer, die in Österreich um Asyl angesucht haben, weil sie aus verschiedenen Gründen nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. Die Frauen hier tragen kein Kopftuch, um sich vor den Blicken und der Begierde der Männer zu schützen und die Polizei überwacht die Situation auch nicht. Vor ein paar Tagen habe ich ein iranisches Mädchen gesehen, sie hatte ihre Haare offen und trug ein T- Shirt, das im Iran verboten wäre. Sie hat gesungen und Musik gehört. Alles Dinge, die in ihrem Heimatland nicht erlaubt wären. Trotzdem belästigen die iranischen Männer dieses Mädchen nicht, nicht hier in den freien Straßen von Europas Städten. Sie belästigen die Mädchen weder mit Worten noch mit Blicken.
Man könnte sich fragen: Warum? Warum respektieren iranische Männer die Rechte der Frau in Europa, aber nicht im Iran?
Ich denke, der große Unterschied liegt hier nicht in der "Kultur", sondern in der Rechtssprechung. Ich glaube, dass österreichische Männer sich wie Iraner verhalten würden, würden sie für ein paar Jahre in meinem Land leben. In Österreich wird Männern beigebracht, die Rechte der Frau zu respektieren—tun sie es nicht müssen sie mit einer Strafe rechnen. Vielleicht brauchen die Mädchen und Frauen im Iran auch diese Freiheit, aber noch wichtiger ist mir, dass alle, die hier leben, das Gesetz respektieren. Kulturelle Unterschiede können keine Entschuldigung für einen Gesetzesbruch sein.
Protokoll und Übersetzung von Christoph Schattleitner.
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