Paula Lochte

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Geflüchtete Frauen erzählen: „Platz auf dem Boot gegen Sex"

Flüchtlinge auf einem Rettungsboot | Bild: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Valeria Ferraro

Eine Straße an der türkischen Mittelmeerküste im Oktober 2015. Es ist Nacht. In einem Lieferwagen versteckt, drängen sich Dutzende Menschen. Darunter sind Asmaa Hweja, damals Ende dreißig, und ihre beiden Kinder, 13 und 15 Jahre alt. „Dieser Wagen war geschlossen, aus Metall und es gab kein Fenster. Wir durften auch nicht sprechen, damit die Polizei uns nicht hören konnte", erzählt Asmaa.Asmaa merkt damals, im Herbst vor acht Jahren, dass der Lieferwagen anhält. Und da sind Stimmen: eine Polizeikontrolle.

„Wir konnten nicht mehr atmen"

Wenn sie jetzt nicht ruhig sind, dann war es das. Dann müssen sie vielleicht zurück nach Syrien, wo Präsident Assad Bomben auf seine eigene Bevölkerung wirft und die Terrormiliz Islamischer Staat wütet. Asmaa tastet nach ihren Kindern. Gleichzeitig fällt ihr das Atmen immer schwerer, sie merkt, dass der Sauerstoff knapp wird. Sie legt eine Hand auf ihre Brust, ringt nach Luft. Sie erinnert sich: „Das war sehr schlimm. Wenn das länger gedauert hätte, wären wir bestimmt gestorben. Wir konnten nicht mehr atmen. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn meinen Kindern auf der Flucht etwas passiert wäre. Denn es war meine Entscheidung gewesen, zu fliehen."

Wie so viele Frauen auf der Flucht übernimmt Asmaa Hweja nicht nur die Verantwortung für sich selbst, sondern auch für ihre Kinder. Denn oft werden Familien während der Flucht getrennt, Frauen sind mit ihren Kinder allein oder sie versuchen den bereits geflüchteten Ehemännern nachzureisen. Asmaa erzählt, wie sehr sie die Flucht damals wollte: „Wenn ich mich jetzt erinnere, frage ich mich immer: Wie habe ich das gemacht? Wie konnte ich das schaffen?" Heute könne sie sich gar nicht erklären, woher sie Kraft nahm, das durchzustehen. Aber sie habe ihre Kinder unbedingt in Sicherheit bringen wollen.

„Wie konnte ich das schaffen?"

Rund die Hälfte der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, sind Frauen und Mädchen - auch wenn wir das oft anders wahrnehmen. Das liegt daran, dass es eher Männer bis nach Europa schaffen. Weil die Flucht hierher so teuer ist - und so gefährlich. Denn da ist, sagt Asmaa, einerseits die bedrohliche Natur. Ertrinken, erfrieren, ersticken - das sind Gefahren auf der Flucht. Andererseits geht aber auch von anderen Menschen Gefahr aus, so Asmaa.

Die Leute, von denen Gefahr ausgeht, das sind die Schleuser. Aber auch Grenzschutzbeamte, andere Flüchtende oder vermeintliche Helfer können gefährlich sein. Zwar gibt es keine repräsentativen Daten über das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und Kinder auf der Flucht. Aber die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat zum Beispiel 40 Frauen und Mädchen befragt, die von der Türkei nach Griechenland und von dort über die Balkanroute nach Deutschland oder Norwegen geflüchtet sind. Also genau über die Route, die auch Asmaa und ihre Kinder genommen haben.

„Wir waren zusammengepfercht wie Tiere"

Alle Befragten fühlten sich auf der Flucht unsicher und bedroht. Sie berichteten von Toiletten und Waschräumen, die sie sich mit Männern teilen mussten, die sie angafften. Von Schlafplätzen in Lagern oder unter freiem Himmel, die alles andere als sicher sind. Von Grenzübergängen, an denen Schwangere gestoßen und gedrückt worden seien. Und von Schleusern, die ihnen sagten: „Du bekommst einen Platz auf dem Boot - wenn du Sex mit mir hast." Und all das, während diese Frauen, zum Teil mit Kindern, Tausende von Kilometern zurücklegen. Zu Fuß, in überfüllten Booten - und in Lieferwagen.

Der Lieferwagen ohne Fenster fährt Asmaa und ihre Kinder im Oktober 2015 von der türkischen Hafenstadt Izmir an einen Strand, von dem aus ein Schlauchboot Richtung Griechenland starten soll. Wie auf einem Viehtransport drängen sich die Flüchtlinge in dem Auto aneinander. Sie müssen stehen, weil es so voll ist: „Wir waren zusammengepfercht wie Tiere", erinnert sich Asmaa.

„Ich fühle mich wirklich zuhause"

Die Polizei hält den Wagen an. Obwohl die Luft immer knapper wird, dürfen Asmaa und die anderen Menschen keinen Laut von sich geben. Sonst werden sie entdeckt. Ohne Worte versucht Asmaa, ihren Kindern Sicherheit zu geben. Sie kann sie nicht sehen, nur spüren. Beruhigend drückt sie ihre Hände. Einen klaren Gedanken kann sie kaum noch fassen. Todesangst macht sich in ihr breit.

Dann winkt die Polizei sie durch. Und endlich, nach etwa anderthalb Stunden, geht die Autotür auf. Luft strömt herein. Sie leben noch. Vor ihnen liegen nun ein Schlauchboot und das Mittelmeer. Auf eine gefährliche Situation folgt die nächste. Aber Ende 2015 kommen Asmaa und ihre beiden Kinder schließlich in Berlin an, wo sie noch heute wohnen. Sie haben Asyl bekommen. Solange ihnen in Syrien weiter Gefahr droht, dürfen sie bleiben. Und wollen das auch. Asmaa arbeitet nun als Jobvermittlerin für Geflüchtete, ihr Sohn hat vor kurzem Abitur gemacht, ihre Tochter studiert Nanotechnologie. Asmaas Fazit: „Ich fühle mich wirklich zuhause. Ich habe kein Heimweh, weil man sich nicht vorstellen kann, wie schlimm dieser Krieg war." Ihre Kinder studieren nun hier, in Sicherheit. Und das, sagt sie, war immer ihr Ziel.

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