Paula Lochte

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Kinotipp „Blue Jean"

Salzgeber

Eine Sportlehrerin im England der 80er Jahre muss verstecken, dass sie lesbisch ist, denn die Regierung verbot damals die „Förderung von Homosexualität“. Ein berührender Film, der dennoch nicht ohnmächtig zurücklässt.

Von Paula Lochte


7.9.2023 - Die Eingeweide verhaken sich, das Herz rutscht ihr in den Hals, Blut rauscht in den Ohren, so laut, dass es pfeift. Was die Kollegen oder Schülerinnen sagen, dringt nicht durch. Sie versucht, stoisch geradeaus zu blicken, doch dann bleibt ihr Blick an den Reißzähnen eines Drachens hängen, der sich an ihr vorbei durch den Flur schlängelt. Es ist ein Drache aus Stoff, vielleicht für ein Schulfest oder die Theatergruppe der Schule. Ein lustiges Gimmick also, kein Grund zur Sorge. Doch es sind ohnehin nicht Fabelwesen, die Jean Angst einjagen – sondern ein neues Gesetz.

Jean (Rosy McEwen) ist Sportlehrerin an einer Schule in Nordengland im Jahr 1988. Ihr Job erfüllt sie: Wenn ihr die Teenager blöd kommen, sorgt sie mit ihrer Trillerpfeife oder einem guten Spruch für Ruhe. Wer Talent hat, wird von ihr ermutigt und in die Schulmannschaft geholt. Und sie schreibt mit einer Hingabe Trainingspläne, als handele es sich um Kunstwerke. „Ich wäre gern mal bei einem deiner Spiele dabei“, sagt deshalb ihre Freundin Viv (Kerrie Hayes). Die beiden sind schon lange ein Paar, dennoch kennt Viv weder Angehörige noch Kollegen von Jean. „Das geht nicht“, blockt die auch diesmal direkt ab.

„Don't Say Gay“-Gesetz unter Margaret Thatcher

Keiner in der Schule darf wissen, dass sie lesbisch ist. Jetzt erst recht nicht: Das britische Parlament diskutiert nämlich gerade ein Gesetz, das die „Förderung von Homosexualität“ durch lokale Behörden untersagt. Es will verhindern, dass mit Kindern und Jugendlichen über Homosexualität auch nur gesprochen wird oder sie mit positiven Vorbildern in Berührung kommen. Schließlich solle ihnen nicht vermittelt werden, sie hätten das Recht, homosexuell zu sein, heißt es damals im Fernsehen. Jean hat Angst, ihren Job zu verlieren.

Tatsächlich wurde das „Don't Say Gay“-Gesetz, die sogenannte „Section 28“, von der konservativen Parlamentsmehrheit unter Margaret Thatcher trotz Protesten im Mai 1988 verabschiedet. Erst im Jahr 2003 wurde das Gesetz gekippt. Der Spielfilm Blue Jean macht klar, was es anrichtete. Die „Section“ wirkte wie eine Umweltkatastrophe, mit dem Unterschied, dass sich keine giftige Chemikalie, sondern Angst im Land ausbreitete. Vor allem Homosexuelle, die wie die Hauptfigur Jean an Schulen arbeiteten, brachte es in eine unmögliche Lage.

Zum Doppelleben gezwungen

Regisseurin und Drehbuchautorin Georgia Oakley traf für den Spielfilm Dutzende Betroffene. Im Presseheft für Blue Jean erzählt sie, alle Lehrer:innen hätten ihr in etwa dasselbe gesagt: „Dieses Gesetz hat mein Leben ruiniert, aber ich konnte nicht dagegen marschieren, weil ich es nicht riskieren konnte, von Fernsehkameras gesehen und in der Schule geoutet zu werden.“

Zunächst scheint es im Film so, als hätte sich Jean in ihrem Doppelleben gemütlich eingerichtet: Der Beruf, der sie erfüllt, obwohl sie nicht sie selbst sein kann, auf der einen Seite – ausgelassene Abende mit Freundinnen in der lokalen Lesbenbar oder einer feministischen WG auf der anderen. Doch dann taucht plötzlich eine ihrer Schülerinnen, Lois (Lucy Halliday), am Billardtisch der queeren Kneipe auf und Jean hat kein Versteck mehr, in das sie sich zurückziehen kann. Sie muss sich entscheiden: Flüchten oder kämpfen? Riskiert sie ihren Job – oder ihre Selbstachtung?

Erschreckende Parallelen zu heute

Blue Jean gelingt bei alldem ein Spagat. Der Film macht die unerträgliche Homofeindlichkeit greifbar, und zeigt dabei auch erschreckende Parallelen zu heute auf, wo selbsternannte besorgte Bürger und Eltern vor „Genderideologie“ warnen, vor der man Kinder schützen müsse. Wer den Film guckt, braucht nicht nur Taschentücher, sondern auch einen starken Magen: um die Wut im Bauch auszuhalten und die Beklemmung, die sich darin ausbreitet.

Gleichzeitig ist Blue Jean aber nicht eines dieser Lesben-Dramen, die einen ohnmächtig zurücklassen, weil alle Figuren leiden, als sei Homosexualität ein Synonym für Traurigkeit. Filmemacherin Georgia Oakley und den Schauspielerinnen gelingt es, auch zu zeigen, wie viel Lebensfreude, Zärtlichkeit und Kampfesgeist entsteht, wenn Frauen Frauen lieben.

Blue Jean (UK 2022), Regie/ Buch: Georgia Oakley, mit Rosy McEwen, Kerrie Hayes, Lucy Halliday u.a., 97 min., OmU; läuft auf dem Queerfilmfestival (7.-13. Sept. in 12 Städten)und in der Queerfilmnacht (ab 11. Septin 30 Städten); Kinostart: 5. Okt.

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