Es wird gekämpft auf den Straßen Berlins. Manche nennen es Krieg. Dazwischen: die Friedensaktivisten von der Fahrradpolizei. Wir waren mit ihnen unterwegs.
Auf einmal springt das Kopfkino an, ein Actionfilm, der klassische Plot, Gut gegen Böse, und gleich Blaulicht am Tatort, aus der Ferne Sirenengeheule. Dazu „Axel F“ auf die Ohren, der Soundtrack von „Beverly Hills Cop“, und dann springe ich auf mein Fahrrad, nehme die Verfolgung auf, trete in die Pedale für Recht und Gerechtigkeit, im Namen der Straßenverkehrsordnung.
Cut, nächste Szene: Ich gebe Warnschüsse ab in die Luft, oder hey, warum nicht tiefer zielen, um selbige aus dem Reifen zu lassen. Doch der Verbrecher entkommt, biegt um die Ecke, ohne ein Handzeichen zu geben. Ich muss Verstärkung holen, denke ich, die Kollegen sollen die angrenzenden Straßen sperren, am besten gleich die ganze Stadt abriegeln. Denn der Mann, der sich nun auf der Flucht vor dem Gesetz befindet, war eben auf dem Gehweg unterwegs. In entgegengesetzter Fahrtrichtung! Mit dem Rennrad!!
Okay, das ist jetzt kein Kapitalverbrechen, aber eine Ordnungswidrigkeit schon, und ich muss doch das Verwarnungsgeld einfordern, denke ich, zehn Euro, mindestens. Kann ich nicht einen Hubschrauber zur Unterstützung anfordern? Wenigstes eine Aufklärungsdrohne? Dann endlich merke ich, dass ich es wohl ein wenig übertreibe mit meiner Rolle. Das hier ist kein Actionfilm. Klar, die Bösen sind manchmal gut und die Guten oft gerissen. Doch ich bin kein Hilfssheriff, der das entscheiden muss.
Die Kinovorstellung in meinem Kopf ist zu Ende. Ich schalte auf Realität zurück und höre, wie Aileen Hennemann – Fahrradhelm, Sonnenbrille, Einsatzgürtel mit Dienstwaffe und Handschallen – einer Frau erklärt: „Sie können gleich mit Karte bezahlen.“ Ich bin mit einer Fahrradstreife der Berliner Polizei unterwegs, Direktion 3, Abschnitt 34, Aileen Hennemann und ihre Kollegen sind seit Anfang diesen Jahres für den nahen Osten der Stadt zuständig: Hellersdorf, Marzahn, Treptow, Köpenick und für den Lichtenberger Kaskelkiez südlich der Frankfurter Allee, wo man mit dem Fahrrad über Kopfsteinpflaster holpern oder eben unerlaubterweise auf dem gemütlicheren Gehweg rollen kann.
Wie die Frau auf dem Hollandrad, die gerade widerwillig eine Bankkarte aus ihrem Geldbeutel nestelt und es mit der Vorwürfe verdrehenden Kraft des Whataboutism versucht: „Werden die Autofahrer hier auch mal angehalten?“ Die Straße sei nur für Anlieger frei, trotzdem würden hier alle durchrasen. Und wie der Mann auf dem Rennrad, dem Aileen Hennemann „Hallo, Sie auch, stopp!“ hinterherruft, der aber so tut, als würde er nichts hören, einfach weiterfährt, sich dem Zugriff verweigert. Ich hätte ja die Verfolgung aufgenommen.
Dann lerne ich aber in den kommenden zwei Stunden: dass natürlich nicht alle Vergehen geahndet werden können, dass das gar nicht das Ziel ist der Fahrradpolizisten, und vor allem, dass es Momente gibt, in denen sie selbst nicht wissen, was sie mit ihrer Arbeit bewirken. Jeden Morgen stellen sie sich dem Verdrängungskampf, der auf den Berliner Straßen tobt. Schauen hin, halten an, klären auf, kassieren ab und sind allen Reaktionen zwischen Einsicht und Unverständnis ausgesetzt. „Ich nehme das nicht persönlich“, sagt Aileen Hennemann, „sonst würde es keinen Spaß machen.“
Nach dem Streifendienst hängen sie ihre Fahrräder an einen Wandständer oder ziehen vorher noch mal ein Schräubchen nach. Dann schreiben sie Berichte, füllen Statistiken und können letztlich nicht mehr als hoffen, dass die Unfallzahlen sinken. Und dass im Zeit zermahlenden Zusammenspiel aus Politik und Verwaltung einige für alle sichtbare und allen mehr Sicherheit bringende Ergebnisse herauskommen: eine veränderte Verkehrsführung, ein neuer Radschutzstreifen oder wenigstens ein Verkehrsschild.
Aileen Hennemann, die in jedem Dienst zwischen 30 und 40 Kilometer zurücklegt, Fahrradfahren mit Freiheit gleichsetzt und an diesem Tag im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen eine kurze Hose trägt, verzweifelt nicht an ihrer Aufgabe. Sie sieht ja den Einfluss, den sie auf das Verhalten der Leute hat. Sie unterrichtet sie in Verkehrserziehung. Sie gibt Nachhilfe bei der Verkehrsmoral.
Allein ihre Anwesenheit an einer Kreuzung und die neongelben Streifen auf ihrer Uniform erinnern Fahrradfahrer daran, dass eine rote Ampel mehr ist als nur ein Vorschlag, zu bremsen und dann auch tatsächlich anzuhalten. Erinnern Autofahrer an die Vorzüge eines Schulterblicks beim Rechtsabbiegen. Trotzdem sagt Aileen Hennemann Sätze wie: „Ich vermisse manchmal die gegenseitige Rücksichtnahme, manche denken nur an sich.“ Aber auch: „Wenn man den Leuten einen Anstoß gibt, dann denken sie schon nach, zeigen Verständnis.“
Berlin ist eine autogerechte Stadt, rund 1,23 Millionen Pkw sind zugelassen, die Zahlen in den vergangenen Jahren immer leicht ansteigend. Berlin will aber auch fahrradfreundlich sein, muss es werden, denn im vergangenen Jahr hat der Radverkehr um knapp ein Viertel zugenommen, wurden 20,5 Millionen Räder an den 16 aktiven Zählstellen in der Stadt erfasst. Pandemiebedingt, aber auch weil zwei Fakten wie überreife Früchte am Baum der Erkenntnis baumeln: Autofahren ist kein Beitrag zum Umweltschutz. Und: Mit dem Fahrrad gelangt man nicht selten schneller ans Ziel.
Es ist kurz nach Zwölf, als Aileen Heinemann und ihre Kollegen am südlichen Ende der Lichtenberger Ruschestraße anhalten, die Räder auf dem Gehweg parken, den Knöllchenblock aus den Satteltaschen holen, genau wissen, was sie erwartet. Sie kennen alle Argumente, die nur Ausflüchte sind.
Der Verkehr staut sich, die meisten Autofahrer wollen links auf die Frankfurter Allee abbiegen. Einige müssen nach rechts, und weil diese Abbiegespur frei und besser zu erreichen ist, wenn man über die durchgezogene Linie eines Radwegs fährt, werden die Polizisten nun mehrmals Handzeichen geben, zur Seite bitten und stets höflich ins heruntergelassenen Fahrerfenster sagen: „Sie begehen eine Ordnungswidrigkeit, Sie benutzen einen Radschutzstreifen, der ist nicht für sie vorgesehen.“ Kostet dann 15 Euro und man kann gleich bezahlen. Ein Kartenterminal haben sie ja immer dabei. Praxistipp: Ist günstiger, wenn die Bearbeitungsgebühren nicht dazukommen.
Die Fahrradstreife hat nicht nur die Aufgabe, Fußgänger vor Radfahrenden und diese vor sich selbst zu schützen, sondern auch die Absicht, mit Autofahrern ins Gespräch zu kommen, sie zu sensibilisieren dafür, dass es kein Recht des PS-Stärkeren gibt. Und die sind an diesem Tag überrascht zu erfahren, warum ihr Manöver, mit dem sie an der einen Ampel vielleicht 17,6 Sekunden gewonnen haben, die an einer anderen wahrscheinlich wieder verlieren werden, gegen die Verkehrsordnung verstoßen.
Ein Mann schüttelt den Kopf und verspricht, nach dieser autofeindlichen Fahrradpolizeiaktion nicht mehr die Grünen zu wählen. Ein anderer sagt, dass da doch niemand gewesen sei, den er hätte gefährden können, und beschwert sich, dass er wie ein Geisteskranker behandelt werde; ein Vorwurf, den ich als Zeuge vor Gericht jederzeit zurückweisen würde. Ein Anwohner, der die Szene von Gehweg aus beobachtet, kommentiert: „Das müsste öfter hier passieren, die Autofahrer denken, das wäre ihr Weg.“
Es ist ein Kampf, manche nennen es Krieg, in dem sich die Fronten verhärten und die Feindbilder ständig wechseln. Über Fahrradrambos schimpfende Fußgänger werden zu radfahrenden Konsumgorillas werden zu Autofahrern, die sich über das achtlose Fußvolk beschweren und den Vormarsch einer offensichtlich ampelfarbenblinden Zweiradarmee fürchten. Und die ist ja immer schneller im Bewusstsein unterwegs, die Welt vor dem Hitzetod zu retten. Wie auf E und jetzt auch noch elektrisch auf das Vorfahrtsrecht beharrend. Doch Aileen Heinemann, eine Art Verkehrsfriedensaktivistin, sagt nur: „Es ist enger geworden.“ Aber eben auch: „Wir sind alle so sportlich, dass wir ein E-Bike einholen können.“ Ohne Verstärkung, Straßensperre, Hubschraubereinsatz. Im Verkehr sollte niemand den Actionfilmhelden spielen.
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