Wer hat Benjy erstochen? Du willst deinen Verdacht mit anderen Hobbyermittlern und potenziellen Sexpartnern teilen, dann los, die Zeit läuft, das Spiel beginnt.
Okay, dieser Typ da, der in etwa vier Metern Höhe und nur mit Badeshorts bekleidet auf dem Dach einer Holzveranda steht und von dort offensichtlich in den Pool runter springen will, dieser Typ da, er scheint dich zu meinen, und du sollst jetzt bitte schön deinen Arsch bewegen, sofort, das ist schließlich eine Party, seine Party, tja, und was machst du jetzt? Du hast dich schließlich auf dieses Rollenspiel eingelassen, du ahnst, deine Entscheidungen können den Verlauf des Abends verändern, denn deine Rolle ist es, dieser fiktiven Partypoolgeschichte einen persönlichen Spin zu geben, um später dann im real life, wer weiß, neue friends with benefits zu finden oder wen und was mit wem du auch immer suchst auf Tinder. Aber erst mal die Frage: Wischst du, wie du es von der App gewohnt bist, nach links („Nee, du, lass mal“) und bleibst unten oder doch eher nach rechts („Ich komme hoch“), um womöglich selbst ins Wasser springen zu müssen?
Dieser Typ da oben heißt übrigens Benjy, er macht irgendwas mit Musik und dazwischen bestimmt auch einiges mit Hanteln, und du, der Zuschauer, der du gerade Tinder geöffnet hast und jetzt auf einen seltsam entrückten und wahrscheinlich schon microdosierten Benjy in deinem Smartphone starrst, du also scheinst dessen bester Freund zu sein. In-app experience nennt sich das Ganze, und mitten in der App, im neu gelaunchten Explore-Hub, macht Tinder jetzt einen auf Crime, und weil Crime zieht und weil alle es machen, werden hier Brettspielabend und Escape-Room-Erfahrung zu einem Live-Detektiv-und-Dating-Event zusammengerührt, gemeinsam „Tatort“ gucken war gestern.
Und dann („Ich komme hoch“) stehst du eben auch oben und Benjy erzählt dir gleich mal, wie langweilig die anderen Partygäste sind und dass er und du, dass ihr unsterblich seid, was natürlich, wenn es um real existierende Lebensaussichten geht, grob falsch ist und in Benjys Fall noch falscher wird, denn – Achtung, Spoiler! – er wird ja gleich sterben. Aber noch nicht beim gemeinsamen Poolsprung, platsch.
Alles klar so weit? Dann lassen wir das Preview-Filmchen etwas weiterlaufen.
Die Geburtstagsparty hat nämlich bereits begonnen, die Kamera schweift, du siehst Benjys Haus, die Terrasse, den Garten, Benjys beleuchteten Pool, und darum in losen Grüppchen drapiert sind Benjys reiche und schöne und schön reich diverse Freunde, hier dezenter Burning-Man-Style, dort kalifornischer Sportschick, „welcome to my dirty 23rd“, sagt Benjy, also gleich mal hoch die Tassen. Alle sieben Gäste sind jetzt da, und alles ist vorbereitet, um es ordentlich krachen zu lassen, bevor es richtig dreckig werden kann. Zumindest blutig.
Du willst das alles selbst sehen? Benjys Mörder finden? Deine Verdachtsmomente mit anderen Hobbyermittlern und potenziellen Sexpartnern teilen, ein, nun ja, Partner in Crime solving sein? Kannst du haben, an diesem Sonntagabend um 6 Uhr beginnt das „Tinder Swipe Night: Killer Weekend“, läuft die erste von drei Folgen. Bei der Wischnachtpremiere vor einem Jahr waren 20 Millionen Tinderellas und Tinderinos dabei. Später gab es Emmy-Nominierungen, Cannes-Löwen, den Deutschen Mediapreis, nicht nur deswegen gehört Tinder zu den Pandemiegewinnern.
Corona hat dem Geschäft jedenfalls nicht geschadet, im Gegenteil, aber wozu jetzt die ganzen Erfolgszahlen nennen, reicht vielleicht zu wissen, dass 60 Prozent der Leute auf Tinder sich einsam fühlen und um die 40 Prozent verheiratet sind oder in einer Beziehung stecken, also deswegen Tinder oder trotzdem Tinder.
Links, links, rechts, it’s a match!
Womöglich verstehst du bereits, dass du hier mitten in einer platten, aber aufwendig produzierten College-sauf-und-Sex-Geschichte landen wirst. In einem feuchten Traum der Generation Z, das sind die zwischen 18 und 25, das ist die Hauptzielgruppe der Onlinedatingplattform Tinder, der fast – ja, kein Scheiß! – zehn Jahre nach der Firmengründung weltweit immer noch führenden Feuchttraumfabrik. Monatlich 50 Millionen aktive Nutzer. An guten Tagen über drei Milliarden Swipes. Links, links, rechts, it’s a match! Also ONS, DTF, LZB. Oder eben uncodiert: One-Night-Stand, down to fuck, Langzeitbeziehung. Love me Tinder. Wisch dir was. Stolz ist Tinder auf seine Tinder-Ehen, die Tinder-Babys. Weniger glücklich über Seiten, die Tinder-Fails sammeln.
Und jetzt noch mal kurz zurück zu Benjy, denn plötzlich verschlechtert sich die Poolpartystimmung, muss hier irgendjemand eine Mordslust bekommen, dem Gastgeber ein Küchenmesser in den Rücken zu rammen. Jedenfalls rauft sich Benjy die Haare und schreit: „Ihr seid so scheiße! Warum bin ich mit euch Wichsern überhaupt befreundet?“ Dann geht er an die Hausbar, schenkt sich noch mal nach, das weißt du, weil Almes, die Benjy für ihre „spooky Emo-Energy“ schätzt, dir zuflüstert: „Kümmer dich mal um das Geburtstagskind!“ Also rein ins Haus, wo Benjy – „Ich mag kein Drama“ – sich wie eine Drama Queen aufführt. Es muss anstrengend sein, Mitte 20 zu sein. Das Lieblingsemoji der Generation Z im vergangenen Jahr? Das Schulterzucken.
Du vor deinem Smartphone solltest spätestens jetzt das Gefühl haben, Teil dieser anstrengend angestrengten Partyclique zu sein, und vor allem müsste sich dein innerer Sherlock so langsam melden, denn es wird immer klarer, dass hier jeder Partygast, außer dir natürlich, ein plausibles Mordmotiv zu haben scheint, denn Benjy wiederum scheint ein Arschloch zu sein, einer, der seinen Freund gar nicht liebt, es ihm aber nicht sagen kann, einer, der seinem kleinen Bruder das Gefühl gibt, weniger wert zu sein. Mit einem Schulterzucken kommt hier niemand weiter. Aber gleich zustechen?
Vielleicht wird eher Phoebe zum Messer greifen, Benjys erste große Liebe und, wie er immer noch findet: „Die perfekte Mischung aus sexy und verrückt.“ Eine Mörderbraut, denkst du vielleicht, das wäre doch mal ungewöhnlich, sonst töten ja meist Männer. Jedenfalls trieb die verrückte Bikini-Phoebe gerade noch wie ertrunken auf im Pool, alles für Tiktok inszeniert, für irgendeine Cute-but-morbid-Challenge, „es wird trenden“, ist sich Phoebe sicher, und als könnte sie deine Gedanken lesen: „Entschuldige dich nie für geilen Content.“ Nein, schade, leider kann man Phoebe nicht ermorden.
Für Entschuldigungen ist es ohnehin und längst zu spät, du musst dich jetzt festlegen, wer war’s denn nun? Sechs Verdächtige, du hast die Wahl, und dann ist es noch lange nicht zu Ende, denn dann geht es gleich weiter, überhaupt erst richtig los, startet der Fast Chat mit Leuten, die eine andere Mordtheorie haben als du, 30 Sekunden, zack, zack, zack, keine Zeit, Opener zu formulieren, Chateinstiegssätze auf Sinn und Sinnlichkeit zu checken, Sätze, die meistens eh unbeantwortet bleiben, weil du mal wieder geghostet wird von deinem Match. Du bist, du bleibst nur ein AB, ein absoluter Beginner auf dem Datingmarkt, eben kein Typ wie Benjy mit Haus und Pool und Garten, aber der hat jetzt auch nichts mehr davon, RIP, Ruhe im Pool, mit einem Wisch ist alles weg.
Zum Original