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Reportage

#%$*+=!!!

Oder man sagt einfach, dass Moskau verrückt geworden ist. Über eine Stadt, die am liebsten niemals aufhören würde zu feiern

Der Weg zu den Verrückten führt nach oben, in kleinen, zweifelnden Schritten zum Scheitelpunkt eines Brückenbogens. Da ist nichts mehr, an dem man sich festhalten könnte, nur abgerundete Stahlnieten geben den Füßen Halt. Und das ist jetzt kein Schwindelgefühl mehr. Es ist die Angst zu stürzen, zu fallen.

Unten, in vielleicht zwanzig Metern Tiefe, fließt die Moskwa, ziehen Ausflugsschiffe vorbei, auf dem Sonnendeck Touristen mit ausgestreckten Armen, aufgerissenen Mündern. Die etwa dreißig Verrückten hier oben, sie winken, lachen, fotografieren zurück. Ein Gewitter soll kommen. Der Wind ist schon da.

Dieser Aufstieg ist eigentlich verboten. Mehrere aufgepinselte Hinweise machen das klar. Wer trotzdem über ein Geländer klettert, um auf dem Stahlgerippe der Andrejewski-Fußgängerbrücke zu balancieren, tut es auf eigene Gefahr. Doch das kümmert keinen. Nicht die zwei Mädchen, die sich auf allen vieren vorwärtsrobben, nicht den Mann, der sich auf einer zwanzig Zentimeter breiten Querverstrebung von seiner Frau ablichten lassen will. Im Hintergrund die Skyline der Moskau City. Sie soll ihm sagen, was er tun soll, damit es aussieht, als würden die Hochhäuser wie Bonsaibäumchen aus seinen Händen sprießen. Sie will doch lieber wieder runter.

Tatjana wirkt so, als würde sie das Rauchen genießen. Dazu diesen Blick. Diesen Moment. Ihre Beine baumeln über dem Wasser. "Ja, setzen Sie sich kurz", sagt sie. Hosenanzug. Pferdeschwanz. Um die vierzig. "Es ist ein so schöner Tag." Tatjana ist froh, heute flache Schuhe angezogen zu haben. Sie war auf dem Weg nach Hause. Da hinten, sagt sie, und zeigt ins Ungefähre, irgendwo hinter dem Gorki-Park. Aber dann habe sie die Menschen auf der Brücke gesehen. Wollte es nicht glauben. Wollte es sehen. Wollte auch nach oben. Will gleich noch eine rauchen. "Und jetzt, werde ich so lange hier bleiben, bis sie es wieder verbieten." Tatjana lacht. Sagt: "Danke, Fußball." Und bedeutet mir freundlich, sie wieder alleine zu lassen. "Aber passen Sie auf beim Abstieg."

Am Sonntagnachmittag, drei Stunden vor dem Achtelfinalspiel der russischen gegen die spanische Nationalmannschaft und sechs Stunden, bevor Igor Akinfejew den finalen Elfmeter parieren kann, bevor die Partywelthauptstadt Moskau nun wirklich den Verstand verlieren wird, ist der Brückenbogen leer. Ein paar neue Verbotsschilder sind angebracht worden. Ein Sicherheitsmann steht dort, wo man über das Geländer steigen konnte. Darf man nicht mehr hoch? "Nein", sagt er. "Sind Sie auch verrückt geworden?"

Wer ein Schiebedach hat, ist im Vorteil in dieser Nacht der Hupkonzerte, Siegesschreie und Glasscherben. Aber man kann sich auch aus dem Autofenster lehnen, die Fahne schwenkend in die Innenstadt fahren, während aus dem Innern eine verzerrte Punkrockversion der russischen Nationalhymne dröhnt und zwei Polizisten mit erhobenen Schlagstöcken Dirigenten spielen. Auch vor der Leninbibliothek in der Nähe des Kreml hat kein Ordnungshüter etwas dagegen, dass das Chaos regiert, dass Jugendliche um eine Boombox herumtanzen, sich auf Lenins Sockel verewigen oder Straßenlaternen mit Stickern bekleben, als wären sie in Kreuzberg - nur, dass hier keiner kifft. Kein böses Wort auch, wenn sich Menschenmassen auf achtspurige Straßen schieben und wahrscheinlich gegen zehn Gesetze gleichzeitig verstoßen. Trinken in der Öffentlichkeit ist nicht erlaubt. Unangemeldete Versammlungen auch nicht.

Aber das alles und noch viel mehr scheint zurzeit egal zu sein. Denn jetzt ist Weltmeisterschaft. Und Russland steht im Viertelfinale.

Das Onlineportal sportrbc.ru titelte am Montag: "#%$*+=!!!" Es ist die unerklärliche Gleichung eines unerklärlichen Spiels, in dem der zur zweiten Halbzeit eingewechselte Linksverteidiger Wladimir Granat fünf Pässe spielte und keiner kam beim Mitspieler an. Die Formel auch für ein flüchtiges Lebensgefühl, das viele Russen so nicht kannten. Das sie schier süchtig macht nach mehr. Nach dem nächsten Wunder. Nach einer Sensation, die keiner mehr ausschließen sollte. Nach noch mehr Freiheiten und dem Staat dreist entrissenen Rechten, die womöglich schon bald zurückgegeben werden müssen. Danke, Fußball.

Meine Vorstellungskraft endet genau da, wo die Frage beginnt, was eigentlich passieren wird, wenn Russland nicht nur weltmeisterlich feiert, sondern diese WM tatsächlich gewinnt. Und noch viel ungewisser: Wie werden diese vier Wochen in Erinnerung bleiben, bei allen, die dabei waren? Bei den Russen, die keine Lust haben, sich vom Westen belehren zu lassen, aber diese Lektionen der Fußballvölkerverständigung sehr wohl verstehen? Und bei allen anderen, die tief im Osten etwas Böses vermuteten und plötzlich von all der Güte überrollt werden?

Die Stadt habe sich verändert, sagen die, die es wissen müssen, die Moskauer selbst. Ihre Antworten klingen ähnlich. So viel Leben und Leichtigkeit in den Straßen, so viele nette Menschen, so viele lustige, rührende Anekdoten zu erzählen. Da war dieser eine Ausländer, erfahre ich in einer Ampelrotphase, der einem Russen einen neuen Rollstuhl kaufte, weil er den Zustand des alten für menschenunwürdig hielt. Diese Fremden seien freundlich, umsichtig, in der Metro, sonst einem Ort des betretenen Schweigens und Wegschauens, könnten auf einmal Gespräche entstehen. "Dieser Sommer soll nicht aufhören", sagt eine Frau in der Supermarktschlange.

Die Stadt habe sie verändert, sagen die, die es nicht vermutet hatten. Ein Senegalese, der mit weißblaurot bemalten Wangen vor dem Bolschoitheater seine Trommel aufgebaut hat und einen Kreis neugieriger Blicke auf sich zieht, sagt, dass man ihm daheim davon abgeraten habe, nach Russland zu fliegen. "Aber das stimmt alles nicht. Die Russen sind tolle Gastgeber, ich habe keinen Rassismus erlebt." Das Netzwerk Football Against Racism in Europe hat diesen Eindruck am Wochenende bestätigt. Keine nennenswerten Zwischenfälle. Kaum rechte Parolen zu hören. Keine Hooligans zu sehen. Die im Vorfeld ausgesprochen Warnungen und Drohungen haben ihre Wirkung nicht verfehlt.

Es häufen sich allerdings die Fälle von sexualisierter Gewalt. Ich habe brasilianische Fans getroffen, die stolz darauf waren, bereits mit drei Frauen geschlafen zu haben. Und Russen, die in einen Nachtclub lockten, weil es dort die besten Mädchen der Stadt geben soll. Manche behaupten, ihr Land würde einen Sommer der Liebe erleben. Gleichzeitig wird im Internet sehr hässlich darüber diskutiert, ob russische Frauen zu leichtfertig seien oder ausländische Männer zu übergriffig.

Manchmal versucht die Polizei, doch einzuschreiten, zu kontrollieren, was außer Kontrolle geraten ist und dennoch einer inneren Logik des gegenseitigen Respekts folgt. Nach einer Bombendrohung in Rostow am Don wurden am nördlichen Ende der Nikolskaja, vor Moskaus inoffizieller Partymeile, sieben Metalldetektoren aufgestellt. Am Sonntagabend, als der Jubel eine kritische Masse erreichte, wurde diese einfach zur Seite geschoben. Die Polizei ließ es geschehen. Ließ auch so viele Männer in Hofeinfahrten urinieren, dass sich stinkende Rinnsale bildeten. In der vor zwei Wochen noch so sauberen Innenstadt, wo die Straßen auch mal bei Regen mit Wasser gesäubert wurden, bilden sich erste Müllberge, sind eingeschlagene Fensterscheiben zu sehen.

Verlässt man die Partybezirke, nehmen die Insignien der Fußballübermacht ab. Sind kaum noch Fahnen zu sehen, wird nicht auf der Straße ständig "Ros-si-ja!" gerufen, geht das Leben unbeeindruckt weiter, sagt die ältere Dame, dass sie hoffe, dass es hoffentlich bald vorbei sei mit dem Feiern, dass die Leute lieber wegen der Rentenaltererhöhungen auf die Straßen gehen sollten, so lange sie es noch können. Nach aktuellen Umfragen ist ein Viertel der Moskauer protestierbereit gegen die Reformen der Regierung. Auf dem Land ist es die Hälfte der Bevölkerung.

Die am Sonntag vor dem Achtelfinale angekündigten Demonstrationen der Opposition gingen im Jubel unter. Nichts zu machen. Denn noch ist Weltmeisterschaft. Und noch wollen viele verrückt sein.

Erschienen am 3. Juli 2018