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Reportage

Halb Omelette

Vom Südpol zum Nordpol II - eine Hitze-Expedition durch Berlin

Die übliche Reiseroute zum geografischen Südpol führt zunächst nach Buenos Aires, dann weiter nach Ushuaia, an die unterste Spitze Argentiniens, bis nach Feuerland, bitte, wo hoffentlich schon der Kapitän wartet. Das Schiff durchquert den Beagle-Kanal, nimmt die Drake-Passage, in der Nähe der Südlichen Shetlandinseln könnten die ersten Eisberge gesichtet werden; beim Landgang wird man vielleicht den Unterschied zwischen Esels- und Zügelpinguinen erkennen Eine Zwei-Wochen-Tour kostet um die 15 000 Euro.

Es gibt von Berlin aus eine andere, kürzere, günstigere Reisemöglichkeit zum Südpol. Man nimmt für 2,80 Euro die S9 bis Schöneweide - Achtung! Klimaersatzverkehr mit dem Bus - und tritt am mutmaßlich heißesten Tag des Jahres auf einen Bahnhofsvorplatz; hier rechts halten, nach etwa einhundert Metern steht man vor dem Südpol. Zutritt ist ab achtzehn.

Früher war das eine Eisdiele, die Südpol-Express hieß, dann wurde daraus ein Dönerladen, ein Spätverkauf, wieder eine Eisdiele. Vor zwei Jahren hat der neueste Betreiber offensichtlich eine Mischkalkulation erstellt. Der Südpol ist seitdem alles in einem, bietet Kaffee, Flutschfinger, Bier vom Fass - "einmalig in Schöneweide" - für 1,30 Euro, dazu Schnaps in allen Prozentwünschen und eine Toilettennutzung für 0,50 Cent. Am Südpol läuft ZDF Info HD, die Bardame hat den Fernseher auf stumm gestellt, über dem verspiegelten Tresen hängt eine Karte: "Alkohol kann Flecken lösen. Keine Probleme", daneben steht ein Spielautomat, einer aus der "Hot Edition".

Die Steigerung von heiß ist brühheiß, denke ich, und von da sind es noch ein paar Grad bis glühheiß. So gesehen treibe ich bereits um elf Uhr in einer Hühnersuppe, der Schweiß auf der Haut fühlt sich wie flüssiger Klebstoff an, aber noch hat er das Lavaniveau nicht erreicht.

Ich brühe im Schatten einer Markise wie Sarah Connor einst im Glanze des Glückes. Und weil die Gehirnleistung an Hitzetagen um dreizehn Prozent nachlassen soll, überlege ich, ob man Helmut Kohl falsch verstanden hat damals, ob er posthum nicht als Klimakanzler gerühmt werden sollte, weil er vor glühenden Landschaften gewarnt hatte.

Zwei Äpfel, Salzbrezeln und Deoroller

Im Juli 1983 wurden am Südpol, in der Nähe der Forschungsstation "Wostok", minus 89,2 Grad gemessen. Am Berliner Südpol sind es 37,1 Grad plus. Sagt zumindest mein Thermometer, das mir als mobile Wetterstation verkauft wurde bei Saturn im Park Center Treptow; an der Kasse vor mir stand ein Mann mit einem Air Cooler: fünf Geschwindigkeitsstufen, Fernbedienung, maximale Leistung 70 Watt. In einer Dachgeschosswohnung sei es unerträglich, sagte der Mann. In meiner Produktbeschreibung lese ich später den beruhigenden Hinweis, dass meine Wetterstation auch von "Personen mit reduzierten physischen, sensorischen oder mentalen Fähigkeiten" benutzt werden kann.

Ich habe mich vorbereitet auf diese Stadtexpedition zwischen den Polen. Ich habe eine nachfüllbare Wasserflasche dabei und die Absicht, keinen Plastikmüll zu produzieren, außerdem zwei Äpfel, drei Pflaumen, eine Tüte Salzbrezeln, natürlich Sonnencreme, Lichtschutzfaktor 30, einen Deoroller und den - weil ich kein passendes Tuch gefunden habe - Waschlappen meiner Tochter. Der hat zwei Ohren und ein Pandabärengesicht und soll zumindest einen Teil meiner vier Millionen hyperaktiven Schweißdrüsen beruhigen, wenn ich mich unbeobachtet fühle. Bei Saturn habe ich glücklicherweise noch den vorletzten Handventilator erwischt, der mir ein lächerliches Lüftchen ins Gesicht bläst, während ich am Südpol sitze und eine Tischreihe vor mir ein Mann seinen Flüssigkeitsverlust mit einem Bier ausgleicht. "Im Schatten kann nichts passieren", sagt er, bevor er das zweite bestellt. Mein Wasservorrat geht gegen zwölf erstmals zu Ende.

Ich habe mir einige Gedanken gemacht über eine angemessene Expeditionskleidung. In seinem Werk "Über den Umgang mit Menschen" rät Freiherr von Knigge: "Kleide dich bequem, aber reinlich und geschmackvoll" - egal, wie heiß es ist. Besonders bequem erschien mir ein T-Shirt, das ich Mitte der Neunziger secondhand gekauft habe. Die Baumwollfasern sind luftig geworden mit der Zeit und trocknen sehr schnell. Einziger Nachteil: Bei ungünstigen Lichtverhältnissen ist das T-Shirt fast durchsichtig.

Ich habe mich für eine kurze Jeanshose entschieden und für Flipflops, die mindestens einen Rekordsommer zu viel in den Sohlen haben, wodurch sie mein reinliches Erscheinungsbild etwas abwerten. Die Feinstaubbelastung aufgrund von Flipflop-Abrieb müsste mal erforscht werden, denke ich. Auf den Strohhut, den ich in Sri Lanka gekauft und seitdem nie wieder aufgesetzt habe, habe ich nach einem finalen Blick in den Spiegel lieber verzichtet.

Als ich gegen eins an den Tresen am Südpol trete und um Wassernachschub bitte, fragt mich die Bardame, ob ich auch Eiswürfel zum Leitungswasser haben will. Will ich. "Viel trinken", sagt sie zum Abschied. "Und gute Reise." Dass meine Expedition mich zum Nordpol führt, quittiert sie mit einem freundlichen "Aha", im Berliner Rundfunk läuft "Walking On The Moon". Tagsüber soll es dort um die 130 Grad warm werden, in der Nacht sinkt die Temperatur auf minus 160. Bei einem Mondspaziergang kommt es wohl auf den richtigen Zeitpunkt an, denke ich.

Die übliche Reiseroute zum geografischen Nordpol führt über Moskau nach Murmansk, dann weiter mit einem Eisbrecher durchs Nordpolarmeer, vorbei an der Inselgruppe Franz-Josef-Land; dorthin, wo Eisbär und Polarfuchs sich Gute Nacht sagen, ist es dann nicht mehr weit, Reisekosten ab 25 000 Euro. Für die Statistik: Zwischen den Polen liegen Luftlinie etwa 20 000 Kilometer.

In Berlin ist es eine knappe Stunde von Schöneweide bis in den Wedding, Ringbahn, U6, Ausstieg Afrikanische Straße, wo mir nach den ersten Treppenstufen Schweißperlen und eine Werbung ins Sichtfeld rollen: "Das neue Axe mit -6 Grad Effekt". Erfrischend wie ein Sonnenuntergang auf dem Mond, denke ich. Und: Dass die BVG im Sommer nicht die Fahrkarten kontrollieren sollte, sondern die Effektivität von Deodorants - und auch noch die kniggegenormte Fußnagellänge bei Flipflop-Trägern. Einen Hinweis sollte es für alle Hemdenträger geben, die nicht wissen, dass ihr Hals in der Hitze anschwillt und ein Kragen die Blutzirkulation behindert. Was wiederum, und auch das ist so ein Hitzeeffekt, die Aggression beim Verlassen der Bahn erklärt.

Der Berliner Nordpol liegt hinter dem Omnibusbahnhof Müllerstraße, gegenüber in der Kneipe "Zum Busbahnhof" fülle ich erst mal wieder meine Wasserflasche auf. Und weil meine mobile Wetterstation 38,5 Grad meldet, schäme ich mich nicht mehr, den Zweiohrpanda aus der Tasche zu holen. Die Tresenfrau lächelt, sie hat drei Kinder und anscheinend Verständnis.

Asphalt schmilzt bei 50 Grad, habe ich gelesen, ab 56 Grad kann man Spiegeleier auf einem Autodach braten. Ich verspüre ein leichtes Hungergefühl, lege meine Wetterstation auf einen schwarzen Mercedes in der Sonne und bestelle eine Apfelschorle. Mit Eiswürfeln? Ja! Als ich wieder rauskomme, ist der Mercedes weg und meine Wetteraufzeichnung zu Ende. Wer bei Hitze im Schatten sitzt, erholt sich zwar, denkt aber langsamer, habe ich gelesen, und vor allem weniger komplex.

Ich esse die letzte Pflaume und zücke mein Smartphone, Eisberge erscheinen auf dem Display. Die Fotos hatte ich dort am Morgen gespeichert, für Notfälle. Bilder, die mit Kälte assoziiert werden, können ja angeblich den Körper abkühlen. Mein aktueller Status - halb Mensch, halb Omelette - verschlechtert sich immerhin nicht.

Die Messzellen im Gehirn

Der Nordpol ist eine Kleingartenkolonie an der Londoner Straße, Nordpol II heißt sie sogar, das will natürlich erforscht werden. Am Spätnachmittagshimmel ziehen ein paar Wolken, und die startenden Flugzeuge sind so laut, dass ich meine eigenen Gedanken nicht verstehe. In einem Aushang am Eingang überfliege ich die Arbeitsdienstzuteilung bis Ende September, erfahre, dass der erste Heckenschnitt vor einer Woche stattgefunden hat, dass es im Mai den ersten Frühschoppen gab, und dann lese ich noch einen handgeschriebenen Zettel: "Eine fast 90 J alte Frau bittet den kleinen Hocker, am Sonntag, 2. Juni 2019, etwa 16 Uhr wieder abzugeben. Er war nicht zum Mitnehmen bestimmt."

Hinter einem Gartenzaun, im Schatten eines Pflaumenbaums, sitzen zwei alte Männer, ich darf eintreten, bekomme sofort einen Tee angeboten, Tee sei gut bei diesem Wetter. Im Hintergrund meldet Radio Metropol FM 39 Grad, ich kann das leider nicht bestätigen. Aber ich erinnere mich an die Messzellen im Gehirn, die meine Bluttemperatur ermitteln und wundersame Prozesse in Gang setzen, wenn es ihnen zu heiß wird. Ein Tee reizt diese Zellen zusätzlich, der Körper wird erwärmt, anschließend ein Kühlungsmechanismus aktiviert. Ich trinke, schwitze, entspanne mich, toll, denke ich, diese Messzellen.

Die Männer stellen sich als Paschas vor. Der junge Pascha ist klein, 75, trägt Stoffhose, Hemd, Mütze, erzählt, dass er Anfang der Siebziger aus Izmir nach Berlin kam, dass er in einer Brotfabrik in Wittenau einen Job gefunden hat. Vor zehn Jahren ist er in Rente gegangen, hat diese Gartenlaube für hundert Jahre gepachtet. Der alte Pascha, 80, kurze Sporthose, Unterhemd, ein ehemaliger Arbeitskollege, heute bester Freund, nickt und trinkt, pustet Zigarettenqualm in den Garten, wo kein Wind weht.

Das Gartenhäuschen haben sie gemeinsam renoviert, gestrichen, das Dach neu gemacht, die Beete angelegt, in einem Monat wollen sie Gurken und Tomaten ernten. Zurzeit sind die Familien in der Türkei, Urlaub. Vor der Laube ist ein kleiner Swimmingpool aufgebaut, da, wo Weintrauben wachsen, steht eine Schaukel. "Wir haben unsere Ruhe", sagt der kleine Pascha. Aber warum Nordpol, und dann auch noch Nordpol II, will ich wissen. Die beiden schauen sich an, als wäre ich vom Südpol, zucken gleichzeitig mit den Schultern. "Keine Ahnung", sagt der große Pascha. Deutschland sei ein kaltes Land im Winter. Vielleicht wisse der Vorstand mehr.

Nach einem zweiten Tee verabschiede ich mich, laufe durch die Gartenkolonie, sehe Deutschlandfahnen, Gartenzwerge, volle Grillteller, Blumen in fünfzig Schattierungen von Rosa. Ich frage links, frage rechts, aber niemand kann die Sache mit dem Nordpol erklären. Der Vorstand sei heute nicht da.

Mein Polarforschergeist schmilzt in der Sonne, die Saugfähigkeit meines T-Shirt ist am Limit, der Handventilator wird langsamer. So ist das wohl bei Expeditionen, denke ich. Am Ziel wartet niemand. Man muss erst wieder lebend nach Hause kommen, um als Held gewürdigt zu werden, als einer, der die Südnordpassage in Berlin entdeckt hat.