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Feature

Fifty Love

Steffi Graf war Weltranglistenerste und die Letzte auf der Welt, der man etwas Schlechtes wünschte. Und ich wollte gern so leben, wie sie Rückhand spielt. Ein Liebesbrief zum 50. Geburtstag

Von Paul Linke

Ich wollte Steffi Graf nicht heiraten. Ich war noch nicht soweit. Die Hochzeitsfrage kam zu früh. Natürlich mochte ich sie. Diese beiläufige Wischbewegung mit der linken Hand, wenn ihr, nach einem longline geschlagenen Return, eine Strähne aus dem Stirnband gerutscht war. Oder wenn sie nach einem Ballwechsel den Blick klettern ließ; Sitzreihe für Sitzreihe nach oben, den Kopf vogelartig schräg gestellt, als würde sie gleich losfliegen - oder lediglich den Himmel über dem Center Court nach einer personalisierten Botschaft abtasten. Vielleicht war es nur ein Flugzeug, das ihre Konzentration störte.

Meistens bewunderte ich sie, wie man früher Sportstars bewunderte: in der Bravo, in der Sportbild, bei "Wetten, dass ..?", in der Tagesschau, wenn sie mal wieder ein Turnier in Indian Wells oder Indianapolis gewonnen hatte; dann wieder live vor dem Fernseher, wenn ein Grand Slam anstand. Ich feierte Steffi Graf für all die große Siege und die Größe, die wenigen Niederlagen mit Würde ertragen zu haben. Sie stand mit Grandezza an der Grundlinie.

1989 kam "Der Außerfriesische" ins Kino, Steffi Graf spielte eine Nebenrolle und musste sich von Otto anhören, dass auch Tennisbälle Schmerzen empfinden, dass sie den Schläger wie eine Gitarre halten sollte. Sie lächelte wie von einer diesen kitschigen Fototapeten, die damals schwer in Mode waren: Palmenstrand, glitzerndes Meer, untergehende Sonne - dann sagte sie auf der Leinwand: "Eigentlich finde ich ihn ganz nett." Sie hatte ein Herz für Spinner.

Oder 1994: Da wäre ich so gern dabei gewesen, als sie Spaghetti für ihre Freunde kochte, die Teller zu Bruch gingen und sie doch noch Ersatz fand in der hintersten Ecke des Küchenschranks: die Silberplatte, die sie in Wimbledon gewonnen hatte. In einem anderen Werbespot benutzte sie den Tennisschläger als Nudelsieb wie einst Billy Wilder in "The Apartment".

Als Student kaufte ich manchmal Pasta von Barilla, wenn ich mir demonstrativ etwas gönnen wollte. Dank Steffi Graf kannte ich schließlich den Unterschied zwischen Fusilli und Farfalle. Über den Nudelschmetterling hatte sie in die Kamera gehaucht: "Wer ihn fangen will, muss ihm ein wenig Parmesan auf die Flügel streuen."

Im Mai 1996 war ich fünfzehn, Steffi Graf zehn Jahre älter. Ich saß vor dem Fernseher, sie schlug die Bälle so hart, als würde sie ihnen tatsächlich Schmerzen zufügen wollen. Auf mich warteten Hausaufgaben, sie hatte eine Verabredung mit der Japanerin Kimiko Date. Wimbledon, Halbfinale, zweiter Satz, erster Aufschlag. "Steffi", rief ein Mann von der Tribüne, "will you marry me?"

Das Stadion schrie auf. In mir wurde es still. Die Leute warteten auf eine Reaktion. Ich spürte, wie Wärme und Röte mir zu Kopf stiegen. Steffi Graf lächelte den Grasbelag zu ihren Füßen an. Irgendwo auf der Palmenstrandtapete galoppierten wilde Pferde im Sommerregen, spannte sich ein Regenbogen wie in einem Video von Modern Talking.

Sie ließ den Ball mehrmals aufspringen, wischte sich eine Strähne beiseite, suchte Augenkontakt mit dem Himmel; sie wollte ja aufschlagen, aber sie konnte nicht, sie war noch damit beschäftigt, die Wagenreihung ihrer Gefühle zu überprüfen. "Wo auch immer in der Welt ich gespielt habe", sagte sie einmal, "ich konnte mir immer sagen, hier auf dem Tennisplatz kann dir nichts passieren." Dann passierte so etwas.

Ihre Antwort war wie ein Passierschlag, knapp übers Netz: "How much money do you have?" Das Stadion prustete los. Applaus, Schenkelklopfer. Steffi Graf im Epizentrum der Zuneigung. Mal wieder. Am Palmenstrand ritten Dieter Bohlen und Thomas Anders auf den Rücken geflügelter Pferde.

In Steffi Grafs Augen war bald wieder der Ernst angelegt. Die Entschlossenheit, den nächsten Aufschlag präzise in der Ecke des T-Felds zu platzieren, kehrte in ihr Gesicht zurück. "Ich habe früh gelernt, meine Emotionen zu beherrschen."

Als sie das sagte, war sie bereits mit Andre Agassi verheiratet, dem Außerirdischen des Männertennis, der Schläger wie E-Gitarren zertrümmerte; den mein Vater für einen Spinner hielt, weil er pinkfarbene Radlerhosen zum Mehrtagebart trug.

Und ich? Dachte an die vom Familienrat mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnte Taschengelderhöhung. Selbst wenn ich mich aus opportunistischen Gründen der reinen Tennisfarblehre meines Vaters anschließen würde, hätte ich wohl zu wenig auf dem Konto, um Steffi Graf ein Ja zu entlocken.

Trotzdem war sie zum ersten Mal da, die Frage, die Millionen Fans sich ebenfalls stellten damals; und immerhin einer von uns brachte den Mut auf, sie an diesem Tag in Wimbledon auszusprechen. Erst drei Jahre später dachte ich, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben könnten - sollte die Sache mit dem Geld ein Witz gewesen sein.

Steffi Graf war beides: Weltranglistenerste - epische 377 Wochen lang - und die Letzte auf dieser Welt, der man etwas Schlechtes wünschte. Sie war kühl, aber natürlich, sie schien unnahbar zu sein und wirkte doch nie arrogant, war stets freundlich, selbst den ärgsten Konkurrentinnen gegenüber. Sie rangierte auf der letzten Stufe von normal, bevor es langweilig wird. Das Einzige, was ich ihr vorwerfen könnte, ist, dass die Namen ihrer Kinder - Jaden Gil und Jaz Elle - nach Craftbier oder Duschgel klingen.
Wen sie nicht mochte: Paparazzi, die ihr nach dem Privatleben trachteten, mit denen sie sich Verfolgungsjagden lieferte. Um unerkannt zu bleiben, fuhr sie mit einen Golf II Cabrio über die Alte Brücke in Heidelberg. Ich lebte nur dreißig Kilometer entfernt.

Heute lebt sie mit ihrer Familie in Las Vegas, und nach all den Jahren ist immer noch kein Skandal überliefert. Man hört, dass sie gern kocht, aber nicht gern wäscht, dass sie im Garten arbeitet, wenn die Schmerzen in Knie und Hüfte es zulassen.

Steffi Graf ist ein perfekter Abgang gelungen. Sie ist verschwunden und doch noch da. Als ewig junge Sportlerin, nicht als alternder Talkshowgast. "Mich hat es nie vor die Kamera gedrängt", sagte sie einmal.
So ein fünfzigster Geburtstag - Lebensspielstand: Fifty Love - ist ein schöner Anlass, sich noch einmal an all die Erfolge zu erinnern oder aus Zeitgründen: nur an ein paar.

Sie hat ja alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Viermal die Australien Open, fünfmal die US Open, sechsmal Roland Garros, siebenmal Wimbledon.1988 in allen vier Hauptstädten des Tennis + Olympia in Seoul = Golden Slam. Hat sonst keine geschafft. Auch kein Mann.

Für eine wie Steffi Graf gab es zwei Bezeichnungen, die große Erwartungen schüren, größere Enttäuschungen bringen können: Wunderkind, Jahrhunderttalent. Enttäuscht waren meistens ihre Gegnerinnen.

Mit drei Jahren bekam sie ihren ersten Schläger geschenkt, vom Tennislehrer und Übervater Peter Graf, der später auch ihr Berater und an Steuervermeidung interessierter Manager wurde; mit einem abgesägten Griff schlug sie die Bälle über ein im Wohnzimmer gespanntes Netz, zur Belohnung gab es Lutscher oder Salzstangen.

Mit sechs gewann sie das erste Turnier, mit zwölf war sie Weltmeisterin ihrer Altersklasse, mit dreizehn verließ sie die Realschule, wurde Profi, reiste um die Welt, hörte (wie ich!) Shakin' Stevens, las Enid Blyton, ging ins Bett, wenn ihr Vater sie zum Discoabend überreden wollte.

Mit fünfzehn holte Steffi Graf Gold beim olympischen Demonstrationsturnier in Los Angeles, mit sechzehn sagte sie der Süddeutschen Zeitung: "Ich lebe in einer anderen Welt als andere Mädchen in meinem Alter." Und: "Ich bin immer sehr locker gewesen. Jetzt merke ich, wie ich befangener werde."

Bei den German Open 1986 in Berlin gewann sie zum ersten Mal gegen Martina Navratilova, gegen die Beste der Welt. Wachablösung heißt so ein Moment in der Sportwelt. Nach dem Finalsieg brauchte sie Hilfe, um die Doppelmagnumflasche Champagner zu entkorken. Navratilova sagte: "Das war eine Exekution." Sie meinte ihre Niederlage. Der damalige Bundestrainer Klaus Hofsäß präzisierte: "Steffi ist ein ungeheuer liebes Mädchen, aber auf dem Platz wird sie zum Killer." Auf einer Plakette im New Yorker Court of Champions steht über sie geschrieben: "Souverän und einschüchternd".

Steffi Graf hatte immer nur ein Ziel: Die Nummer eins werden. Wurde sie erstmals 1987; nach einem Finalsieg über Chris Evert in Manhattan Beach löste sie Navratilova an der Spitze der Weltrangliste ab. Champagnerstimmung im Hause Graf.

Ihre Vorhand animierte auch Kommentatoren zu martialischen Vergleichen: Peitschenhiebe longline, Pistolenschüsse cross. Selbstbeschreibung: "Immer knallhart, das ist mein Spiel." Fräulein Vorhand wurde sie genannt, Gräfin Gnadenlos - aus der Grafschaft Brühl, einer Provinzstadt, die wie Leimen (Boris Becker) oder Kerpen (Michael Schumacher) bald jeder kannte.

Ich fand ihre Rückhand beeindruckender. Diesen Slice, den viele unterschätzen, belächeln, weil er kein messerscharfer Angriffsschlag ist, sondern eine butterweiche Abwehrvariante. Steffi Graf spielte fast immer Slice mit der Rückhand. Sie nahm den Schläger dann etwas höher und ging gleichzeitig tiefer in die Knie, verlagerte das Gleichgewicht nach vorne, öffnete die Schlagfläche weiter als bei einer Vorhand Topspin, um den Ball besser schneiden, streicheln zu können. Dann bewegte sie sich in den Schlag hinein, denn so bekam der Ball mehr Tempo.

Aus Respekt bis Angst vor ihrer Vorhand versuchten die meisten Spielerinnen, sie auf der anderen, vermeintlichen schwächeren Seite zu beschäftigen. Das war nicht selten ein Irrtum. Steffi Graf entwickelte vielleicht keinen Druck, aber sie machte kaum Fehler, parierte alle Schläge, drosselte und ordnete das Spiel, lauerte auf einen zu kurzen Ball, um die Rückhand zu umlaufen.

Grundwissen Steffi Graf: Das konnte sie nur deswegen tun, weil sie schnell war und die beste Beinarbeit hatte.

Expertenwissen Brooke Shields: Die Hollywoodschauspielerin war neidisch, an ihrem Kühlschrank hing ein Bild von Steffi Graf, wegen der Beine.

Fun Fact Andre Agassi: So hieß damals der Kühlschrankmitbenutzer und Noch-Ehemann, dem die Bravo viele Cover widmete in der Fototapetenzeit. Warum eigentlich war Steffi Graf nie auf der Titelseite?

Manchmal, wenn niemand mehr damit rechnete, zog sie dann eben doch mal hart durch und zeigte, dass sie mehr kann, als ihre Gegnerinnen mit dem Slice zu nerven. Eine Schwäche kann eine Stärke sein, dachte ich. Und später: Wollte ich so leben, wie Steffi Graf Rückhand spielt.

Sie ist ohne Frage die größte Sportlerin der Geschichte und die einzige Frau, die in den männlich dominierten Bestenlisten auf den vorderen Plätzen landet. Wikipedia listet knapp fünfzig Auszeichnungen auf: Olympischer Orden, Goldene Kamera, Bundesverdienstkreuz am Bande. Doch den größten Erfolg - das sagte sie selbst - erlebte sie erst wenige Monate vor ihrem Karriereende.

Bei den French Open 1999, nach einer schweren Knieverletzung und Zweifeln am Comeback, hatte sie noch einmal das Endspiel erreicht. Auf der anderen Sandplatzseite: Martina Hingis, achtzehn Jahre alt, Wunderkind, ein Jahrhunderttalent, bereit zur Wachablösung.

Es kam erst mal anders. Es war ein Spiel, das Steffi Graf bereits verloren hatte, 2:6, 0:2, dazu die Knieschmerzen, aber sie wehrte sich, gab nicht auf. "Bei wichtigen Punkten weiß ich, was ich tun muss", sagte sie am Anfang ihrer Karriere. "Die meisten kriegen dann Panik." Hingis wurde panisch, verlor erst die Nerven, dann das Spiel.

Nach diesem, ihren letzten Finalsieg, beschloss Steffi Graf, mit dem Tennis aufzuhören. Nicht einfach so, aber so einfach. Und es muss eine rauschhafte Party gewesen sein in einem Pariser Restaurant. Am nächsten Morgen von Paris sagte sie jedenfalls bei der Siegersprechstunde: "Wir haben bis halb vier auf den Tänzen getischt."

Steffi Graf trat noch einmal in Wimbledon an, verlor das Finale und zwei weitere Spiele, dann begann sie ein anderes Leben. Sie reiste nach Afrika, traute sich Fallschirmspringen, besuchte Konzerte mit Freunden, widmete sich ihrer Stiftung. Und weil sie schon mal dabei war, alles neu zu regeln, trennte sie sich auch bald von ihrem damaligen Lebensgefährten; was einen Neunzehnjährigen in der Provinz heimlich fragen ließ: "Steffi, will you marry me?"

Ich war jetzt soweit. Wir wären auf wilden Pferden in den Sonnenuntergang geritten. Ich hätte vielleicht Radlerhosen angezogen. Aber Andre Agassi hatte einfach mehr Geld.

Erschienen am 14. Juni 2019