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Blumen statt BHs

Es ist schon dunkel, als AnnenMayKantereit an diesem Freitagabend die Bühne in der Wuhlheide betreten. Zuvor hatten die Fans bereits den Klängen von FREYYA gelauscht und sich anschließend von der australischen Band Parcels in Tanzlaune bringen lassen. Die frühere Kölner Schülerband, bestehend aus Christopher Annen, Henning Mai, Severin Kantereit sowie Malte Huck, der es leider nicht in den Bandnamen geschafft hat, sind von Minute eins enorm präsent - es ist die bisher größte Show, die sie gespielt haben.

Entsprechend bunt ist das Feuerwerk, das sie abbrennen. Mal spielen sie in der klassischen Bandformation, mal stehen sie zu viert an der Bühnenseite und machen Lagerfeuermusik. Oder Henning May sitzt barfuß am Klavier und gibt den zurückhaltenden Alleinunterhalter. Der Frontmann singt an diesem Abend nicht nur, er spielt dabei auch Gitarre, Piano, Ukulele oder Melodica.

Seine Stimme ist ohnehin schon längst legendär. Gesegnet mit dem Kehlkopf von Lemmy Kilmister und dem Gesicht von Benedict Cumberbatch ist er als Sänger in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er macht keine große Show, steht ruhig, manchmal fast apathisch auf der Bühne. Keine bleibenden Gesten, keine gestreckte Faust, keine Tanzeinlagen wie von Maurice Ernst, dem Frontsänger von Bilderbuch. Seine Kraft liegt in der Ruhe, die er ausstrahlt und in der Unbekümmertheit, mit der er seine Show durchzieht. Seine Ansagen sind improvisiert. Man wirft ihm keine BH's auf die Bühne, sondern Blumen.

Wenig poetische Tiefe, kein großer Sprachwitz

„Letztens in Dresden hatte die Security unsere Fans gebeten, doch die Anti-Nazi-Shirts auszuziehen. Das war schon komisch. Also, seid alle lieb und nett zueinander, ja?" ruft er den 15 000 Fans zu. Und das war auch schon der politische Teil des Abends. Ihre Songs sind davon ohnehin nahezu befreit. Die Texte sind lose aneinandergereihte Gedanken, die abgetrennt banal klingen mögen, aber ein Gesamtbild ergeben, in dem jeder etwas für sich entdecken kann. Die Texte verfügen nicht über die poetische Tiefe wie die von Bilderbuch und besitzen auch nicht den Sprachwitz ihrer Berliner Kollegen Von Wegen Lisbeth.

Doch genau diese Einfachheit berührt. Auch wenn die Band mit ihrer neuen Platte „Schlagschatten" an Tiefe zugenommen haben. Der Eröffnungssong „Marie" enthält eine Anspielung an Rainer Maria Rilke („Mein Blick ist vom Vorüberziehen der Städte so müde, dass er nichts mehr hält"). Und der Song „Weiße Wand" bildet eine Ausnahme gegenüber den sonst sehr unpolitischen Liedern über Liebe und ihr Scheitern.

Ein ehrliches Lied über die weiße, westliche Filterblase, die uns umgibt - „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichstagsbrand". Passend dazu färben sich die Bildschirme auf der Bühne weiß. Das ist nicht nur ein starkes, poetisches Bild, sondern gleichzeitig auch eine Anspielung auf Pink Floyds legendäres „The Wall".

Kylie Minogue sagte ab

Angekündigt war die Veranstaltung als „AnnenMayKantereit und Freunde". Zum Ende des Konzertes weiß man auch, welche Freunde gemeint waren. Zunächst covern die vier Kölner „Can't get you out of my head" von Kylie Minogue. Man hatte sie sogar noch spontan angefragt, ob sie nicht Lust hätte, heute Abend mit aufzutreten, erzählt Henning May. Die Antwort per Mail war leider negativ. Damit zumindest etwas mehr Disko-Feeling aufkommt, holt man sich erneut die Parcels auf die Bühne.

Als zum Schluss die markante Melodie von „ Hurra, die Welt geht unter" erklingt, kommen drei echte Berliner Legenden auf die Bühne - Nico, Maxim und Tarek von K.I.Z holen die letzten Kraftreserven aus dem tanzwütigen Publikum heraus. Danach ist Feierabend. Die Freiluftbühne in der Wuhlheide leert sich schnell. Eine bunte, fröhliche und vor allem friedliche Party war das. Das ist vermutlich die größte Stärke von AnnenMayKantereit als Liveband. Egal, wie man sie findet - nachdem man sie live gesehen hat, geht es einem besser als davor.

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