Patrick Wehner

Editor & Reporter @SZ | Burns '21 @NewYorkTimes, München

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Artikel

Meine Oma, der Flüchtling

Warum sind sie hier? Wer darf bleiben? Wie wollen wir mit ihnen umgehen? Alle diskutieren momentan über Flüchtlinge. Und vergessen dabei: Vor 70 Jahren hat man so über unsere Großeltern gesprochen. Sechs Protokolle.



"Flüchtlingskinder hatten in unserer Gegend einen schlechten Ruf, weil sie noch ärmer als der Rest waren."

Maria Bohm, 76, floh von Serbien nach Niederbayern: „Einen Moment im Jahr 1945 werde ich nie vergessen, dabei war ich da erst fünf Jahre alt. Ich kann mich noch ganz genau an die Worte des Mannes erinnern. Meine Eltern, meine ältere Schwester, ihr Baby und ich waren bei einem Bauern in Niederbayern untergebracht. Besser gesagt, die Amerikaner zwangen ihn, uns aufzunehmen. Er war ein sehr gemeiner Mann, die Situation dort war schlecht. Wir teilten uns zu fünft ein Zimmer und wir Kinder durften drei Monate lang nicht raus zum spielen. Aber: Wir waren auf seine Gnade angewiesen.

Maria Bohm (Vorderreihe, 3. v. r.) nach ihrer Flucht in Niederbayern und heute.

Wir saßen also eines Abends bei dem Bauern zum Essen, die Milchsuppe stand in einem großen Kessel auf dem Tisch und alle aßen mit der Kelle daraus. Als mein Vater nach einem Teller fragte, sagte der Bauer: ‚Wie ich sehe, bist sogar ein richtiger Feinschmecker. Nix kriegst!' Wir fühlten uns gedemütigt. Er wollte uns nicht bei sich haben. Und wir wollten nicht dort sein. Aber wo sollten wir hin?

Im Oktober 1944 sind wir aus dem heutigen Serbien geflohen. Dort lebte meine Familie seit Generationen. Ich, meine Schwester und ihr Baby konnten auf dem Planwagen eines Nachbarn mitfahren, meine Mutter ist die ganze Strecke bis nach Schlesien gelaufen.

Mein Vater war zu der Zeit bei der Wehrmacht in Deutschland stationiert. Zweimal ist er dort abgehauen, hunderte Kilometer umhergeirrt, um uns zu suchen und uns für ein paar Tage zu begleiten. Ein Mal sogar nur für eine Nacht. Meine Mutter hatte wahnsinnige Angst, dass die Wehrmacht meinen Vater erschießt, wenn sie merken, dass er nicht mehr da ist. Von Schlesien aus ging es in einem Viehwaggon weiter nach Deutschland. Drei Tage waren wir in dem Zug eingeschlossen, ein alter Mann starb darin. Meine Mutter erzählte noch Jahre später davon.

Die ersten eineinhalb Jahre in Deutschland wurden wir von Lager zu Lager geschickt, kamen dazwischen immer wieder mal bei Bauern wie dem gemeinen in Niederbayern unter. Gott sei Dank waren nicht alle so wie er. Wir waren auch ein paar Wochen in einer Außenstelle des ehemaligen KZs Flossenbürg untergebracht, das zu dem Zeitpunkt erst seit Kurzem leer stand. Ein paar Monate vorher waren dort noch Juden ermordet worden, jetzt waren wir dort. Es gab fast keine Betten oder Pritschen, die Essensversorgung war miserabel. Das war auch die Zeit, als meine Mutter gemeinsam mit einer anderen Frau zum Betteln um Essen auf die umliegenden Höfe ging. Die Einheimischen haben sehr unterschiedlich reagiert. Bei manchen gab es zwei Eier und einen Löffel Schmalz, andere haben die Vorhänge zugezogen und nicht aufgemacht.

In Serbien hatten wir ein schönes Haus, viel Platz, wir mussten uns um Dinge wie Essen oder Kleidung nie Gedanken machen. Und jetzt ging meine Mutter plötzlich betteln.

Von der Kleidung her gab es auf jeden Fall Unterschiede zu den Einheimischen. Auch wenn alle unter dem Krieg litten, so war ich mit Sicherheit schlechter angezogen als die anderen Kinder. Mein Kleid für den ersten Schultag bestand aus einer umgenähten Wehrmachtsdecke. Manche hänselten mich deswegen. Aber das war mir damals egal, ich mochte es sehr.

Flüchtlingskinder hatten in unserer Gegend einen schlechten Ruf, weil sie einfach noch ärmer als der Rest waren. Aber das wurde einem nicht direkt gesagt, das waren mehr die Blicke und die Ermahnung an die einheimischen, bayerischen Kinder, nach Hause zu kommen und nicht mit uns zu spielen. Für die Erwachsenen war das sicher auch nicht leichter. Als meine Eltern nach Monaten Arbeit auf einem Gutshof fanden, wurde die ganze Situation langsam besser. Die Einheimischen sahen, dass wir mindestens genauso hart arbeiteten wie sie. Dadurch wurde das Misstrauen geringer."

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