Patrick Gensing

Journalist, Redakteur, Autor

1 Abo und 5 Abonnenten
Artikel

Kommentar zum NSU-Prozess: Zwischen Aufarbeitung und Strafrecht

Kommentar zum NSU-Prozess

Zwischen Aufarbeitung und Strafrecht

Von Patrick Gensing, tagesschau.de

Der NSU-Prozess ist auf einem guten Weg - der NSU-Prozess ist eine Enttäuschung. Beide Meinungen kann man nach 100 Prozesstagen leicht begründen. Grund für diese vollkommen widersprüchlichen und doch nicht falschen Einschätzungen sind die sehr unterschiedlichen Erwartungen an den Prozess.

Da sind die Ankläger, Richter und einige Vertreter der Nebenkläger, die vor allem ein kleinteiliges Puzzle zusammensetzen wollen, um die strafrechtliche Schuld der fünf Angeklagten zu beweisen. Ein komplexes und schwieriges Unterfangen, denn die Hauptangeklagte nimmt ihr Recht wahr zu schweigen. Dabei könnte sie wohl alle Rätsel im NSU-Komplex auflösen.

Dennoch sind Beteiligte an dem Prozess optimistisch, dass es trotz des eisernen Schweigens von Beate Zschäpe und den massiven Erinnerungslücken vieler Zeugen zu einem Schuldspruch kommen wird. Der Vorsitzende Richter Götzl wird für seine gewissenhafte Arbeit gelobt und der Prozess komme voran, meinen Experten.

Offene Fragen

Doch es gibt auch noch viele Nebenkläger, Angehörige der Opfer und Beobachter, die meinen, es lägen noch gar nicht alle Teile des Puzzles auf dem Tisch. Somit sei es noch gar nicht möglich, die Schuld der Angeklagten festzustellen. Sie wollen die Rolle des Geheimdienstes Verfassungsschutz genauer beleuchten und fordern Antworten auf viele offene Fragen: Wer war noch im Netzwerk des NSU aktiv? Welche Beziehungen gab es ins Ausland? Wer half vor Ort? Wie erfolgte die konkrete Opferauswahl? Wie finanzierte sich der NSU? Half ihm staatliches Geld bei der Planung und Ausführung seiner Taten? Haben V-Männer oder ihre V-Mann-Führer die Taten gefördert, ermöglicht, gedeckt? Warum wurden Akten von V-Leuten mit engen Bezügen zur Neonazi-Szene in Thüringen geschreddert?

All diese Fragen versucht derzeit beispielsweise der Untersuchungsausschuss in Thüringen zu klären. In bewundernswerter Sisyphusarbeit werden Zeugen gehört, Akten ausgewertet, Experten befragt, um ein möglichst detailliertes Bild der Vorgänge seit Mitte der 1990er Jahre nachzeichnen zu können. Leider interessiert sich für diese Arbeit kaum jemand. Ähnliches war bereits bei den U-Ausschüssen in Bayern und Sachsen zu beobachten, die interessante Ergebnisse lieferten, die aber kaum zur Kenntnis genommen wurden.

Nach dem Ende des NSU-Ausschusses des Bundestags - von einer angedachten Neuauflage nach der Bundestagswahl spricht übrigens längst niemand mehr - konzentriert sich die große Öffentlichkeit ausschließlich auf den Prozess in München. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel großspurig versprochene lückenlose Aufklärung des NSU-Komplexes wurde somit unausgesprochen dem Gericht übertragen.

Enttäuschung bei den Angehörigen

Viele Angehörige der NSU-Opfer haben nach den Neonazi-Morden, nach den Verdächtigungen durch die Polizei und Medien das Vertrauen in die deutschen Institutionen verloren. Sie wollen - zu Recht - wissen, wie ernst das Versprechen einer lückenlosen Aufklärung ist - und erleben vor Gericht reihenweise Enttäuschungen, weil ihre Anträge abgelehnt, weil viele aus ihrer Sicht wichtige Fragen nicht verhandelt werden, weil sie nicht einfach Erklärungen verlesen können.

33 der 50 Opferanwälte erklärten daher in einem offenen Brief, "die berechtigten Interessen der Angehörigen und Verletzten - vor allem das Interesse der Aufklärung - werden insbesondere vom Generalbundesanwalt längst als lästig hinten angestellt". Zudem würden "notwendige politische und gesellschaftliche Diskussionen mit dem Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses des deutschen Bundestages als weitgehend abgeschlossen erachtet".

Dieser Eindruck drängt sich in der Tat auf. De Facto wurde das Bundesamt für Verfassungsschutz noch gestärkt, die skandalöse V-Mann-Praxis geht weiter - und auch bei vielen Medien wurde zwar das eigene Versagen wortreich beklagt, konkrete Konsequenzen wurden aber kaum gezogen.

Druck vom Prozess nehmen

Der NSU-Prozess findet somit in dem Spannungsfeld zwischen längst nicht abgeschlossener politischer Aufarbeitung und den nüchternen Paragrafen des Strafrechts statt. Dieser Widerspruch lastet auf dem Verfahren - und wird neue Enttäuschungen bei den Angehörigen der Opfer produzieren.

Politiker und Medien könnten Druck von dem Verfahren nehmen, indem sie selbst weiter nach Antworten im NSU-Komplex suchen - statt sich zurückzulehnen und auf die Ergebnisse des Prozesses zu warten.

Stand: 01.04.2014 09:52 Uhr

Zum Original