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Belarus: Protest im Schatten

Yuliya Salauyova engagiert sich im Verein "Razam" in Bremen - auch für sie veränderte sich im Sommer 2020 alles.

Der Regenschirm im Eingangsbereich von Yuliya Salauyovas Haus hätte sie in ihrem Heimatland ins Gefängnis bringen können. Er hängt, kaum bemerkbar, an der Garderobe, daneben ein Schal und eine Fahne, sie alle in den Farben Rot und Weiß. In Belarus würde das für die Anhänger des Lukaschenko-Regimes ausreichen, um Salauyova als Extremistin einzustufen. Weiß-Rot-Weiß, das sind die Farben der belarussischen Oppositionsbewegung. Doch hier, in Bremen-Nord, wird sie niemand dafür bestrafen. Im Gegenteil. In Bremen haben Salauyova und der Verein „Razam", dem sie angehört, viel Unterstützung gefunden. Von Belarussen und Belarussinnen natürlich, aber auch von vielen Bremerinnen und Bremern. Einen Button des Vereins hat sie sich an den Pullover gesteckt.


Doch vor einem Jahr, da verändert sich auch für Yuliya Salauyova alles. Die Menschen versammeln sich in Belarus auf den Straßen, sie protestieren zu Zehntausenden gegen das Wahlergebnis, das den Präsidenten Alexander Lukaschenko mit 80 Prozent als klaren Sieger erscheinen lässt, obwohl Umfragen ein anderes Bild ergeben. Von anderen Ländern wird die Wahl als gefälscht eingeordnet. Auch wenn die Repressionen und die Gewalt der Regierung schon Ende der 90er-Jahre begonnen hätten – im vergangenen Jahr seien zum ersten Mal Menschen aus allen Schichten und Generationen auf die Straße gegangen,  sagt Salauyova. Schlimme Bilder erreichen sie aus ihrer Heimatstadt Minsk, sie hört die Schreie, die Explosionen. Ihre Eltern leben noch in Belarus und haben große Angst.

„Es war sehr emotional, mit meinem Vater zu reden, weil er auch auf die Straße gehen wollte. Aber sein gesundheitlicher Zustand hätte das nicht zugelassen.“ Yuliya Salauyova weiß zu diesem Zeitpunkt, dass sie nicht nur zuschauen kann, dass sie sich nicht raushalten kann. Aus beruflichen Gründen kann sie nicht nach Belarus reisen. Also schließt sie sich in Deutschland mit Gleichgesinnten zusammen, zunächst über den Nachrichtendienst Telegram. Am 9. August 2020, am Tag der Wahl, wird der Verein in Berlin offiziell gegründet, in Bremen organisieren die Belarussinen und Belarussen seit Juni 2020 Kundgebungen. Die meisten ihrer Herkunft seien in Deutschland gut integriert, sagt Salauyova , deshalb habe es vorher keinen großen Bedarf gegeben, sich zusammenzutun. „Doch das, was dort passiert ist, war so schrecklich und so unfair. Wir mussten uns solidarisieren.“ Der Verein hilft Menschen, die Opfer von Gewalt in Belarus geworden sind, steht in Verbindung mit Deutschen NGO's und der Regierung und kooperiert mit Initiativen aus anderen Ländern. Drei Ziele hat der Verein sich gesetzt: Eine freie Wahl, einen Stopp der Gewalt, und das Ende der Herrschaft Lukaschenkos. Aber natürlich hat sich Salauyova Gedanken gemacht: Wie weit darf sie sich politisch engagieren, ohne in Gefahr zu geraten? Darf sie Interviews geben? Sie habe alles mit ihrer Familie zusammen entschieden. Nach Belarus zu reisen, ist für sie unter den aktuellen Umständen undenkbar. Sie würde riskieren, festgenommen zu werden.


Mit ihren Eltern hat Salauyova lediglich Kontakt über den Messengerdienst Signal, der als besonders sicher gilt. „Wenn ich per Festnetz anrufe, weiß ich, dass da jemand zuhört“, sagt sie. Sie führe keine politischen Unterhaltungen, und wenn, dann gebe man sich nur Hinweise. Von Bekannten aus ihrer Heimat hört Salauyova schreckliche Geschichten. „Da kommt ein schwarzes Auto angefahren, zwei schwarz gekleidete Männer springen raus und nehmen politische Gegner einfach so fest, auf dem Weg von der Arbeit zum Beispiel“, erzählt sie. Freunde von Salauyova, die ein paar Tage in Haft verbrachten, erzählten ihr, dass politische Gefangene dort absichtlich mit Covid-Infizierten zusammengesteckt würden. Aber vor den Gefängnissen, da warteten Ehrenamtliche und Angehörige von NGO's, um den Entlassenen Essen zu geben und Infos zu sammeln oder Listen zu führen. Die Kommunikation in Belarus sei schwierig, die Familien erführen häufig erst von Freiwilligen, dass eine Angehörige oder ein Angehöriger inhaftiert wurde. Yuliya Salauyova steigen Tränen in die Augen, wenn sie von der Solidarität der Menschen in Belarus spricht.

Salauyova ist vor fast 20 Jahren aus Belarus nach Bremen gekommen, um ihr Studium zu beenden. Es hatte wenig, aber auch etwas mit Lukaschenko zu tun, sagt sie heute: „Ich habe schon damals gesehen, wie er das System umbauen will. Es war allerdings noch lange nicht so schlimm wie heute. Nicht so, dass ich Angst gehabt hätte.“ Das wäre heute ganz anders. Aber auch damals habe sie schon gemerkt, dass die frei Denkenden unerwünscht sind, dass man den Menschen die Ideologie des Regimes aufdrängen wollte. Sie entschied sich, ihr Studium an einer privaten Universität fortzuführen. An einer staatlichen wäre ein Studium, wie sie es absolviert hat, nicht möglich gewesen, da ist sich die 42-Jährige sicher. Kulturwissenschaften dazu von Philosophie – Fächer für offene, kreative Köpfe. In Deutschland bekam Yuliya Salauyova ein Stipendium, fand sich hier beruflich. Bis heute arbeitet sie an der Jacobs University und kümmert sich um Internationale Beziehungen. „Ich war ein sowjetisches Kind, ein post-sowjetischer Teenager und bin eine europäische Erwachsene“, sagt sie lächelnd. Salauyova lernte belarussisch als Muttersprache, in Bremen sprach sie es immer weniger. Doch seit dem vergangenen Jahr sei es ihr wichtiger geworden, sich belarussisch zu fühlen. Seitdem befasst sie sich mehr mit belarussischer Kultur und Literatur, bringt ihrem Sohn belarussisch bei. Sie feiert Weihnachten immer noch einmal im Januar, zum orthodoxen Weihnachtsfest.


Ob sie sich vorstellen kann, jemals zurück nach Belarus zu gehen? „Nicht aus persönlichen Gründen. Aber wenn ich gebraucht werde, um das Land nach Lukaschenkos Herrschaft wieder aufzubauen, werde ich da sein.“


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