zenith: Viele Journalisten haben es schwer Ihre Musik einzuordnen. Welche Art von Musik machen Sie? Gibt es dafür einen Sammelbegriff?
Murat Ertel: Wenn wir einem Taxifahrer sagen, wir machen dies und das, sagt er, ah, sie machen moderne Volksmusik! So könnte man es nennen. Oder alternative Volksmusik. Wir sind aber auch von amerikanischer und afrikanischer Folkmusik beeinflusst. Wir machen etwas Neues, deswegen gibt es dafür noch keinen Namen. Wir stehen aber auch zum "Anadolu pop" in Beziehung, der in den 1960er Jahren entstand.
Was hat Sie zur Musik gebracht? Ihr Werdegang ist ja ziemlich ungewöhnlich.
Ich komme aus einer Künstlerfamilie. Mein Vater ist Grafiker, ein Onkel ist Schriftsteller, und weil noch ein anderer Karikaturist ist, kamen ständig Künstler, welche mit ihnen befreundet waren, zu uns. Somit bin ich in ein Haus geboren worden, in dem alle Formen der Kunst ausgeübt wurden. Daher kann ich gar nicht genau sagen, wie ich mit der Musik begonnen habe. Es waren einfach immer Musiker um mich herum. Meine erste Musikgruppe habe ich mit fünf Jahren gegründet. Die hieß "Mavi Güneş - blaue Sonne". Die bestand aus zwei Mädchen und mir.
In den vergangenen Jahren befindet sich Kunst und Kultur in Istanbul im Aufbruch. Viele verschiedene Künstler arbeiten an zeitgenössischen Themen kreativ und innovativ. Was brauchen die Künstler in der Türkei, um in der Zukunft optimale Arbeitsbedingungen zu haben?
Was Kultur und Kunst an sich angeht, gibt es keinen Mangel. Der findet sich aber bei deren Unterstützung. Die Türkei gibt prozentual gesehen nur ein Zehntel dessen für die Kultur aus, was in anderen Ländern, etwa in Frankreich, dafür aufgewendet wird. Das ist ein erheblicher Unterschied. Wir könnten in der Türkei eine Kulturexplosion haben.
Haben Sie schon erlebt, dass Sie kritisiert werden für die eigenartigen Texte, die Sie singen?
Ja, natürlich. Zum Beispiel gibt es eine Verklärung des Osmanischen Reiches. Wenn wir Volkslieder mit kritischen, gegen die osmanische Obrigkeit gerichteten Texten singen, kann es Proteste geben. Die Feministinnen sind sauer auf unsere Bauchtänzerinnen und verwehren sich dagegen. So etwas kommt vor.
Wie gehen Sie damit um? Ist die künstlerische Freiheit so eingeschränkt, dass Sie sich selber zensieren müssen?
Ja das machen wir! Das ist vielleicht traurig, aber ja, ich gebe es zu. Jemand, der nicht hier lebt, der kann das nicht verstehen. Das Staatsfernsehen verbietet mir, von einer "freien Seele" zu reden. Verstehen Sie? Bevor wir ein bedenkliches Wort verwenden, denken wir tausendmal nach, wie der eine oder andere dies verstehen mag. Sollen wir das so formulieren oder anders? Um hier zu leben, braucht es die Selbstzensur. Über einige Themen kann man sowieso nicht reden. Zum Beispiel kann nicht über Religion und Gott diskutiert werden. Nicht vor dem Publikum, nicht im Fernsehen, nicht im Radio. Man kann nicht mal jemanden schützen, der so etwas versucht. Sofort sagen die Menschen, du bist ein Ungläubiger, und du bekommst ein Etikett verpasst. Nur weil du den Atheisten verteidigt hast. Und die Regierung unternimmt nichts dagegen. Die unterstützt das eher noch.
"Professoren, Journalisten und Künstler sitzen hier im Gefängnis"Inwiefern unterstützt die Regierung diese Tendenzen? Mischen sich die staatlichen Autoritäten direkt in die Freiheiten der Künstler ein und wenn ja wie?
Ja, wir haben auf jeden Fall solche Probleme. Einige Intellektuelle, die mit ihrer Situation zufrieden sind und die Regierung unterstützen, führen ein eher freies Leben. Aber alle, die kritisch gegenüber den Einrichtungen des Staates und seinen Repräsentanten sind, werden entweder unterdrückt, sind im Gefängnis oder leben im Ausland. Das ist eine traurige Wahrheit, und das Traurigste ist, dass die Intellektuellen dies entweder nicht sehen oder nicht sehen wollen. Es ist eine offensichtliche Wahrheit, dass Professoren, Journalisten oder Künstler wegen dem, was sie auszusprechen gewagt haben, im Gefängnis sitzen.
Ist es mit der Gedanken- und Redefreiheit in der Türkei so schlecht bestellt?
Manches kann man zu einer bestimmten Zeit ansprechen, anderes dagegen überhaupt nicht. Es gibt Themen, wie Kultur, Religion, Rasse, Sprache, die sich mit der Vorgabe der Administration decken müssen. Wenn es sich nicht deckt, dann gibt es Probleme, in genau dem entsprechenden Ausmaß. Man kann über verschiedene Wege eingeschüchtert werden. Das kann zum Beispiel das Verbot einer Zeitung sein, Geldstrafen oder Putschvorwürfe. Oder ihre Wohnung wird gestürmt, durchsucht, das Telefon abgehört. Das ist beängstigend. Nach den Berichten der im Gefängnis einsitzenden Intellektuellen ist es wohl sogar schlimmer als nach dem Militärputsch im September 1980. Viel asozialer. Ich mache mir wirklich Sorgen.
Seit Jahrzehnten ist die Türkei EU- Beitrittskandidat. Seit Jahrzehnten wird darüber diskutiert, ob die Türkei der EU beitreten sollte. Sind sie dafür, dass die Türkei in die EU aufgenommen wird?
Nein, das bin ich nicht. Meiner Meinung nach würde das einen wirtschaftlichen Niedergang nach sich ziehen. Aber ich würde mir wünschen, dass die Gesetze angepasst würden, etwa in Hinblick auf Menschenrechte oder den Umweltschutz. Und ich wünsche mir die Reisefreiheit. In der EU gibt es inzwischen so viele Türken, und die sind alle bereits EU-Mitglied! Das, was mir am meisten gefällt, ist, dass sich eine ganze Generation von Gebildeten, Künstlern und Wissenschaftlern dort niedergelassen hat. Ich bin dafür, dass sich Rassen, Religionen, Sprachen vermischen. Deswegen müssen die Menschen in Bewegung bleiben, und deswegen müssen die Grenzen aufgehoben und die Reisefreiheit gewährleistet werden.
Lassen Sie uns über Ihr neues Album sprechen. Es heißt "Gecekondu", was "Über Nacht gebaut" heißt und als Begriff für die wuchernden Armensiedlungen Istanbuls dient. Sie versuchen mit ihrer Musik immer auch, Geschichten zu erzählen. Welche Geschichte erzählt dieses Album?
Das Album vorher hieß "Kökler - Wurzeln", und behandelte, wie der Name schon sagt, die Wurzeln, die der Natur und die der Kultur. Dieses Mal wollten wir ein urbanes Album machen. Wenn wir uns die Stadt, in unserem Fall natürlich Istanbul, ansehen, konfrontiert uns das mit deren Aspekten, wie Asphalt und Beton, und mit Themen, die uns beunruhigen. Die Beschäftigung mit den "gece kondu", also den Favelas, erschien uns am sinnvollsten, weil hier Menschen zusammen mit ihren Tieren in gedrungenen, einstöckigen Gebäuden eine eigene, fast anachronistische Lebensweise pflegen. Auch dass hier aus Müll Wohnraum geschaffen wird, ist bedeutsam. Außerdem ist es ein Umfeld, in dem der Mensch sich darüber bewusst wird, dass er ein Mensch ist.
"In den ›gece kondu‹ wird Kultur geboren"Was meinen Sie damit?
Man kann dort jederzeit alles, was man besitzt, verlieren. Das erschloss sich uns sehr schnell. Als Kind war ich bei den Proben zu einer Inszenierung von Altun Teners "Kesanlar lider destani" dabei, für die mein Vater das Bühnenbild gestaltet hatte. Als wir uns für den Titel "Gecekondu" entschieden hatten, dachte ich sofort daran, die Skizzen für dieses Bühnenbild für das Album zu verwenden. Die Elektro-Saz fungiert hier als wirklich wichtiges Symbol. Sie ist das einzige Instrument in der türkischen Kultur, das sich modernisiert hat, und sie ist gleichzeitig das erste, das wichtigste Instrument. Sie erzählt damit die Kultur der Stadt, sie erzählt auch die anatolische Kultur, die in den "gece kondu" geboren wird.
"Gece kondu" steht aber auch gleichzeitig für Armut. Was bedeutet Armut für Sie?
Natürlich herrscht dort Armut, aber es gibt dort auch andere Formen des Reichtums. Genau so wie der Begriff "Erfolg" ist auch Reichtum vielfältig zu verstehen. Man kann von einer monetären Armut reden. Aber das Leben in den "gece kondu" bedeutet auch, in einer natürlichen Umgebung und trotzdem in der Stadt zu leben. Außerdem herrscht dort ein soziales Umfeld, das man in einem Appartement nicht finden kann. Es gibt einen starken Zusammenhalt im Viertel. In großen Mietshäusern kennen die Bewohner ihre Nachbarn nicht mehr, das ist in den "gece kondu" anders.
Und doch bleibt die Armut, die die Menschen auch in die "gece kondu" geführt hat. Ist das nicht eine zu romantische Vorstellung der Elendsviertel?
Wenn die Behörden mit ihren Bulldozern kommen und ein "gece kondu" abreißen wollen, wehrt sich das gesamte Viertel dagegen. Also gibt es einen starken Zusammenhalt, und das ist auch ein Reichtum. Viele "gece kondu" haben außerdem Aussicht auf den Bosporus! Das ist auch eine Form von Reichtum. Dort fehlt das, was wir an Komfort gewöhnt sind, aber die Bewohner haben dafür noch ihre eigene Kultur.