Heiligabend, 10 Uhr morgens auf dem Hamburger Berg. Nach Tagen traut sich die Sonne wieder raus, dafür ist es wahnsinnig kalt. Vor der Tür des Elbschlosskellers bietet ein Mann, der kaum noch stehen kann, Drogen an: „Brauchst du was? Speed, Koks, LSD?"
Im Inneren spielt derweil Schlagermusik, am Tresen sind alle Plätze belegt. In einer Ecke sitzen zwei Menschen am Tisch, ihre Köpfe liegen auf der Holzplatte, sie schlafen. Und hier wird Weihnachten gefeiert?
In dritter Generation führt Schmidt die Kneipe auf der Hamburger Berg„Klar", sagt Daniel Schmidt (34) Inhaber des Elbschlosskellers. „Jeder, der möchte, bekommt ein Weihnachtsbier, Kartoffelsalat und Würstchen umsonst. Für die Stammgäste gibt's dazu noch kleine Geschenke." Auf der Theke stehen kleine Körbe mit Schokolade und Mandarinen, zwischendurch läuft immer mal wieder ein Weihnachtslied. „Meine Frau hat extra eine Weihnachts-Playlist zusammengestellt", sagt Schmidt lachend.
In den Elbschlosskeller ist er quasi hineingeboren worden, hieß es mal in der MOPO. Das stimmt: In dritter Generation leitet Schmidt die berühmt-berüchtigte Absteige auf St. Pauli. „Wir sind hier eine große Familie" sagt er. Und auch das stimmt, finden seine Gäste.
Hamburg-St. Pauli: Vom Obdachlosen zum AngestelltenSebastian zum Beispiel. Der 37-Jährige ist seit einem Monat quasi ununterbrochen hier. Er hat es vom Wohnungslosen zum Quasi-Angestellten im Elbschlosskeller geschafft. „So ein Herz zu haben und jemanden einzustellen, der obdachlos geworden ist, das ist das Größte", sagt er dankbar über seinen Chef.
Während seine Ex-Frau mit den zwei Kindern Weihnachten feiert, hat Sebastian Schicht. Er räumt ab, putzt durch, packt mit an. Dazwischen trinkt er Bier. Einmal ist er kurz weg, als er zurückkommt, hat er Schmidt ein kleines Geschenk mitgebracht. Sebastian übergibt dem Wirt eine Packung Ferrero Rocher. Schmidt umarmt seinen Mitarbeiter, bedankt sich und eilt wieder hinter den Tresen.
„Wenn die Jungs Geld haben, teilen die alles", sagt Schmidt später. „Da gibts welche, die selbst mal zwei, drei Tage nichts gegessen haben und dann sehen die, dass jemand Hunger hat und kommen dann mit etwas zu essen wieder."
Hamburg: Elbschlosskeller-Fan René ist auf der DurchreiseLkw-Fahrer René ist auf Durchreise in Hamburg. Auch ihn hat es an Heiligabend in den Elbschlosskeller verschlagen. Der Schweizer ist Stammgast: Aus Verbundenheit mit der Kneipe hat er sich auf den rechten Unterarm sogar das Logo des Elbschlosskellers tätowieren lassen. „Ich habe am Freitag in Norwegen abgeladen und bleibe über Weihnachten hier", sagt er in breitem Schweizer Dialekt.
René war das erste Mal vor etwa zwei Jahren im Elbschlosskeller. „Man hat mir gesagt: Wenn du in Hamburg bist, musst du in den Elbschlosskeller. Da gehst du vorwärts rein und rückwärts wieder raus", sagt er und lacht. Seitdem ist er sooft es geht in seiner Lieblingskneipe.
Nach Feierabend geht's zur FamilieSo sehr Wirt Schmidt seinen Arbeitsplatz liebt, so sehr freut er sich auf Heiligabend mit der Familie. „Ich bin heute von 6 bis 14 Uhr hier, dann geht's ab nach Hause zum Sohnemann." Wenn Schmidt geht, bleiben einige weiter hier. Steven und Klaus zum Beispiel. Steven (19), weil er nirgendwo hin kann, Klaus (65), weil er nirgendwo hin will.
Steven ist vor einem halben Jahr von Zuhause rausgeflogen, Wirt Daniel nahm ihn im Elbschlosskeller auf. Hinten, im sogenannten Ruheraum, wo Bilder von verstorbenen Mitarbeitern hängen, wo ein Kicker und zwei dunkle Sofas stehen, ist sein Schlafplatz.
Mit Schlafsäcken im Hamburger ElbschlosskellerDer ist aber gerade besetzt: Zwei ältere Menschen haben es sich mit ihren Schlafsäcken und Decken auf den beiden Sofas bequem gemacht. Ob es Männer oder Frauen sind, lässt sich nicht erkennen. Sie haben ihre Decken bis zum Haaransatz hochgezogen.
Stevens Ziel ist es, eine neue Ausbildung anzufangen. Er will wieder rauskommen aus der Kneipe, die Auffangbecken und Ersatzfamilie für die einen und Arbeitsplatz für die anderen ist.
Kiez-Urgestein „Der schöne Klaus" ist StammgastEiner, der hier auf keinen Fall weg will, ist Klaus - besser bekannt als „der schöne Klaus". Klaus Barkowsky war einst eine der schillerndsten Figuren auf dem Kiez. In den 80er Jahren, der Zeit der Banden, genoss er als Lude der berüchtigten „Nutella-Bande" Geld und Ansehen. Das Geld ist weg. Das Ansehen, zumindest bei manchen, geblieben.
Heute ist Klaus nicht so gut drauf, mehrfach will er vom MOPO-Reporter Geld haben. Sein Körper ist ausgemergelt, er nuschelt. Für seine zweite Heimat, den Elbschlosskeller, hat auch er nur warme Worte übrig: „Das ist doch mein zweites Wohnzimmer hier", ist einer seiner wenigen verständlichen Sätze. Klar, dass er auch an Heiligabend hier ist.
Nach einer guten Stunde in Hamburgs härtester Kneipe wird klar: Auch an einem so unheiligen Ort wird Heiligabend gefeiert. Hier ist für jeden Platz: für Trinker, für Obdachlose, für Kiez-Größen. So wie an allen anderen Tagen auch.
Best of MOPO: Der Artikel ist eine Geschichte aus unserem Archiv und erstmals am 24. Dezember 2018 in der Hamburger Morgenpost erschienen. In unregelmäßigen Abständen kramen wir in unserem Archiv und suchen Stücke heraus, die auch heute noch lesenswert sind.