Oliver Weber

Student / Autor, Regensburg

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Artikel

Entpolitisierung: Hinter unserem Deich sind wir keineswegs sicher

Der eigentliche Anlass dieses Workshops kam erst ganz am Ende zum Vorschein: Ein Teilnehmer, der finnische Historiker Jussi Kurunmäki, wies auf das Paradoxon hin, dass der Normalbürger sich üblicherweise eher Sorgen um die Politisierung von Sachfragen macht, wäh­rend Sozialwissenschaftler seit einigen Jahren Prozesse der „Depolitisierung" immer kritischer beäugen. Sie misstrauen dem seit mehr als sechzig Jahren immer wieder ausgerufenen „En­de der Ideologien", das gleich auch die Geschichte zum Halt gebracht haben soll, und fragen stattdessen nach dem Politischen, das hinter Sachzwängen und vermeintlicher ökonomischer Alternativlosigkeit verborgen liegt. Aber versteht man so die Ursache des konstatierten Phänomens wirklich besser? Ist das Abstandnehmen zur Politik nicht ein zu übliches Vorkommnis, als dass man sich mit dessen bloßer Anfechtung zufriedengeben könnte?

„Depoliticization before Neoliberalism" lautete deshalb konsequenterweise die Titelformulierung der Tagung, die zwei Dutzend Politikwissenschaftler und Historiker im niederländischen Deursen-Dennenburg zusammenführte, wo sie dem „Kampf um die Grenzen der politischen Sphäre seit ihrer Entstehung im späten achtzehnten Jahrhundert" auf die Spur kommen wollten. Die Datierung auf den Beginn der Sattelzeit hatte keineswegs nur pragmatische Gründe, wie eine Zwischenfrage deutlich machte: Gibt es Depolitisierungsphänomene nicht auch schon vor dem Anbruch der Moderne? Nicht im strengen Sinne, gab der Amsterdamer Historiker Ido de Hahn zur Antwort, der den Eröffnungsvortrag gehalten hatte. Dass etwas politisch oder unpolitisch gemacht werden kann, setzt eine Unterscheidung voraus, die spezifisch neuzeitlicher Natur ist: die Trennung von Staat und Gesellschaft. Erst im ausdrücklich nichtstaatlichen Raum können Religionen, Moral im Plural, freie Diskussionen und bloße Privatinteressen aufblühen - nur wo dieser Raum vorhanden ist, kann der Staat mit seinen Zwangsmitteln als Bedrohung dargestellt, oder umgekehrt, eine staat­liche Reform des gesellschaftlichen Zu­sammenlebens in Angriff genommen werden. Wer die Dialektik von Politisierung und Depolitisierung geschichtlich verstehen will, muss nach dem Verhältnis dieser beiden Räume fragen.

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