Sebastian Edathy
"Die Staatsanwaltschaft hat nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln." Das verlangt nicht irgendein justizkritischer Kommentator. Das steht in Paragraph 160 Absatz 2 der Strafprozessordnung. Die deutschen Staatsanwälte bezeichnen sich deswegen gerne auch als die objektivste Behörde der Welt.
Im Fall des früheren Bundestagsabgeordneten und SPD-Politikers Sebastian Edathy ist davon nichts zu merken. Stattdessen erleben wir Ankläger, die einen Menschen verfolgen, gegen den sie auch nach ihrer eigenen Darstellung bis heute nichts strafrechtlich Relevantes in der Hand haben: Edathy besitze, so formulierte die Staatsanwaltschaft noch vor kurzem in ihrem Schreiben an den Bundestagspräsidenten Lammert, Zitat: "nicht pornografische Nacktaufnahmen von Kindern und Jugendlichen." In der Pressekonferenz am Freitag hat die Ermittlungsbehörde diese Darstellung dramatisiert: Jetzt sollen die Bilder dem - in Anführungszeichen "Grenzbereich der Kinderpornografie" entstammen.
Zur Rechtfertigung dient ein kriminalistischer ErfahrungssatzSelbst wenn das so sein sollte: Aufgabe der Staatsanwaltschaft wäre es zu prüfen, ob die Grenze überschritten wurde oder nicht. Straftaten werden begangen - oder sie werden nicht begangen. Ein "fast" oder "beinahe" gibt es nicht. Und nur wenn die Grenze wenigstens nach Auffassung der Staatsanwaltschaft überschritten worden wäre, hätte sie einen erforderlichen Anfangsverdacht für ihre Ermittlungen gehabt. Erst dann hätte sie daran denken dürfen, der neugierigen Öffentlichkeit mitzuteilen, was für Bilder der Beschuldigte übers Internet bezogen haben soll.
Der Leiter der Staatsanwaltschaft Hannover hat, zur Rechtfertigung seines Vorgehens, einen kriminalistischen Erfahrungssatz zum Besten gegeben: Wer legale Nackt-Bilder von Kindern bestelle, der habe in der Regel auch eine Neigung zu strafbaren Bildern. Nicht nur Philosophen wenden gegen dieses Argument der sogenannten "schiefen Ebene" ein, dass damit Verhaltensautomatismen behauptet werden, für die es im konkreten Fall keinen Beleg gibt: Wer Auto fährt, hat erfahrungsgemäß Spaß an der Geschwindigkeitsübertretung; wer demonstriert, nimmt erfahrungsgemäß auch Gewalt gegen Polizisten billigend in kauf. Mit solchen Thesen wird einer Eskalation staatlicher Interventionen das Wort geredet. Und es wird so getan, als hätten Menschen, keine Möglichkeit an jedem Punkt neu über ihr Verhalten zu entscheiden.
Ein schnelles Urteil im kurzen moralischen ProzessMit ihrem fragwürdigen Erfahrungssatz über das Verhältnis von legalem, aber vielleicht moralisch fragwürdigem Verhalten zu Straftaten, müssen die Staatsanwälte allerdings zumindest den Amtsrichter überzeugt haben, ihnen den erforderlichen Durchsuchungsbeschluss für Edathys Wohnung auszustellen. Das ist ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass der Richtervorbehalt unverhältnismäßiges Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft nicht wirksam verhindert. Auch wenn der Fall Edathy gegenwärtig als Krisenfall der Großen Koalition diskutiert wird, erscheint er also bei näherer Betrachtung mehr noch als Krisenfall des deutschen Strafrechts und seiner Organe.
Sebastian Edathy, über dessen Privatleben die Bundesdeutschen bislang ohne strafrechtlich vertretbaren Grund weitaus mehr wissen, als ihnen zusteht, hat Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Staatsanwaltschaft Hannover eingelegt. Ihm wird das wohl nichts mehr helfen. Das Urteil im kurzen moralischen Prozess gegen ihn ist bereits gesprochen. Für die Rechtskultur des Landes wäre es allerdings wichtig, wenn die niedersächsische Justizministerin genau prüfte, inwieweit die Staatsanwälte sich vom Verfolgungseifer haben treiben lassen. Es gibt keinen rechtlichen und erst recht keinen moralischen Grund dafür, dass nur Politiker Konsequenzen aus ihrem Fehlverhalten ziehen müssen.
Redaktion: Consuelo Squillante
Stand: 17.02.2014, 19.05 Uhr