Oliver Eberhardt

Freier Journalist: Naher und Mittlerer Osten

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Reportage

Die Rückkehr zum täglichen Leben In der Küstenstadt Naharija herrscht Freude über den Waffenstillstand

Der Waffenstillstand im Nahen Osten ist in Kraft und im Norden Israels beginnen die Menschen zum täglichen Leben zurückzukehren. Je länger die Kämpfe ruhen, desto mehr weicht die anfängliche Skepsis der Freude über die erste friedliche Phase seit 34 Tagen.

Um 7.42 Uhr Ortszeit ertönt in der Küstenstadt Naharija zum letzten Mal der markerschütternde Schrei der Luftsirene. In vier Kriegswochen ist der Gang in den Luftschutzraum für die Bewohner des Mehrfamilienhauses am Rand des nur 20 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernten Ortes zu einer gut geölten Routine geworden: "Wir haben es uns einfach gemütlich gemacht; manche schlafen sogar hier", berichtet die 33jährige Polizistin Anat Schulanski, und schaltet den Fernseher ein, den die Hausgemeinschaft samt mehr als 100 Kabelprogrammen in dem unwirtlichen Bunker im Keller angeschlossen hat. In einem der Privatsender resümiert ein ziemlich übermüdeter Sprecher zum x-ten Mal in dieser Nacht die Lage, während am Bildrand eine Uhr auf Null läuft.


Wer konnte, ist geflohen

Es sind die letzten Minuten vor dem Waffenstillstand im Libanon, von dem die Menschen im Norden Israels und im Süden des Libanon hoffen, dass er das Ende des Krieges bedeuten wird. Mehr als 1000 Menschen sind in den vier Wochen der Kämpfe ums Leben gekommen; Zehntausende haben ihre Lebensgrundlage verloren. Wer konnte ist frühzeitig nach Norden (im Libanon) oder nach Süden (in Israel) geflohen; geblieben sind die Alten, die Kranken und Menschen wie die 14 Bewohner dieses Hauses, die für Stadtverwaltungen oder Sicherheitsdienste arbeiten und deshalb nicht weg konnten. "Mein Leben lang habe ich niemals so große Angst gehabt, wie in den vergangenen 34 Tagen", sagt Schulanski. "Gegen einen Verbrecher kann ich mich wehren, gegen eine Rakete nicht. Man weiß nie ob, und wenn ja wann und wo es einen trifft."

 

Wie gebannt starren sie und ihre Nachbarn auf den Bildschirm, warten darauf, dass die verbliebenen 15 Minuten vergehen, dass irgendetwas passiert: "Ein Raketeneinschlag, Entwarnung, das Ende des Krieges - keine Ahnung", murmelt Anat Schulanski. "Wir haben die vergangenen Wochen hier die meiste Zeit tatenlos herum gesessen und zugeschaut wie die Welt versucht hat, den Krieg zu beenden. Und jetzt ist es soweit und ich frage mich, wie das sein wird."


Seit Stunden keine Rakete

Ruhig, lautet die Antwort, einfach nur ruhig. Als die Uhr im Fernsehen bei Null angekommen ist, die altmodische Uhr auf einem Regal acht geschlagen hat, passiert - einfach nichts. Schon seit Stunden seien nirgendwo mehr Katjuscha-Raketen eingeschlagen, erklärt ein Nachrichtensprecher in dramatischem Tonfall, und im Libanon werde auch nicht mehr gekämpft. Im Luftschutzraum fahren sich die Hausbewohner erleichtert mit den Händen über das Gesicht und Schulanski und der Nachbar und Kollege Abraham Feinberg machen sich auf den Weg zu einer Patrouillenfahrt durch die Stadt.

 

Zu tun gibt es nichts: Die Straßen sind menschenleer; die Atmosphäre ist gespenstisch. "Der Waffenstillstand hält," meldet das Radio im Minutentakt. "Ich hoffe, dass das so bleiben wird," sagt Feinberg, und sieht nicht so aus, als glaube er daran: "Wenn die Hisbollah sich weigert, ihre Waffen abzugeben, sind wir genau da, wo wir angefangen haben." Debattiert, analysiert wird in diesen Stunden viel: "Jeder will wissen, was nun kommt", sagt Avi, der zwei Stunden später zum ersten Mal seit drei Wochen seine Schwarma-Bude eröffnet.


"Längefristige Sache?"

Schnell kommt Leben in den Laden: Innerhalb von Minuten drängeln sich die Kunden in dem engen Verkaufsraum. "Ich wusste gar nicht mehr, wie lecker das riecht", sagt Aharon Kaldron, ein Rentner. Auch hier läuft der obligatorische Fernseher; zu sehen ist, wie Zehntausende Flüchtlinge in den Südlibanon zurück kehren. Je länger die Luftsirene schweigt, je öfter die Medien berichten, dass der Waffenstillstand hält, desto mehr weicht auch hier die Skepsis der Überzeugung, dass der Waffenstillstand halten wird. "Wenigstens für den Moment", sagt Kaldron: "Ob daraus eine längerfristige Sache wird, hängt wohl davon ab, wie gut die Diplomaten sein werden."

 

Kurz darauf treffen in der Stadt die ersten Soldaten ein. Ungeduscht und total übermüdet lassen sich die Reservisten in einem Straßencafé nieder, in dem die Menschen zum ersten Mal seit Langem wieder die warme Sommersonne genießen: Das israelische Militär hat damit begonnen, die ersten Bodentruppen abzuziehen; die Armeeführung will den Libanon vollständig verlassen, sobald die aufgestockten UNIFIL-Truppen eingetroffen sein werden. "Ich hoffe, dass wir im Libanon etwas erreicht haben", sagt einer der Soldaten. "Die vergangenen Wochen waren hart: Wir haben unsere Familien, unsere Jobs alleine gelassen. Ich habe Menschen sterben sehen, Kameraden und Feinde. Es wird lange dauern, bis das alles überwunden ist."

 

Ausgelassene Stimmung und ein Witz

Später am Morgen können auch Anat Schulanski und ihr Kollege Abraham Feinberg der Verlockung des Schwarmas nicht mehr widerstehen. Die Stimmung in Avis Laden ist ausgelassen; lachend tauschen die Beiden Neuigkeiten mit den anderen Gästen aus, als der Besitzer plötzlich laut ruft: "Hey, will hier jemand ein Glas Wasser?" - ein Witz in Anlehnung an die geflügelten Worte eines Regierungsvertreters, der den Israelis zu Zeiten der irakischen Raketenangriffe 1991 geraten hatte, ihre Angst einfach mit einem Glas Wasser hinunterzuspülen.


Im Laden bricht Heiterkeit aus, doch mit dem Gelächter schwingt Unmut mit. Viele Bewohner des Nordens werfen der Regierung vor, sie habe sich nicht genug um die Menschen und ihre Nöte gekümmert. "Die haben uns mit den Armen, Alten und Kranken einfach allein gelassen", beschwert sich Awigdor Bar-On von der Stadtverwaltung. "Von denen kann sich doch keiner ein Hotelzimmer im Zentrum des Landes leisten, und die Stadt hat kein Geld für Evakuierungen." Doch im Moment möchte auch er nicht lange darüber sprechen: "Damit beschäftigen wir uns später." Schulanski stimmt ihm zu: "Wir sollten feiern, so lange wir Gelegenheit dazu haben," sagt sie und ruft: "Avi, hast Du vielleicht was Härteres als Wasser da?

von Oliver Eberhardt, 14.08.2006 [Archiv]