Oliver Burgard

Journalist, Redakteur, Redaktionsleitung, Berlin

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Reportage

Wo der Herr Putin wohnt

Reisereportage aus Moskau: Spannend und schön, aber auch kontrovers zu betrachten - das ist die russische Hauptstadt. Aber ist sie auch ein Reiseziel für Familien? Eine Tour durch Moskau mit Kindern


Selten haben wir erlebt, dass die Ankündigung einer Reise so skeptisch kommentiert wurde. Ein Wochenende in Moskau? Mit Kindern? Großes Staunen bei Freunden und Großeltern. Wir werden gewarnt: Die russische Hauptstadt sei teuer und gefährlich. Wir werden auch gelobt: Unsere Idee, nach Moskau zu reisen, sei ungewöhnlich und mutig. Aber wegen Putin dürfe man da eigentlich nicht hinfahren. Und schon gar nicht mit Kindern.

Wir sind nicht beratungsresistent und lassen uns die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen. Ob man in Moskau mutig sein muss, können wir nicht beurteilen, weil wir noch nie dort waren. Dass es teuer wird, zeichnet sich vor der Reise bereits ab, denn jeder Reisende braucht ein Visum, auch jedes Kind. Das geht tatsächlich ziemlich ins Geld. Aber davon lassen wir uns nicht aufhalten, und das Putin-Argument drehen wir einfach um: Gerade weil Russland seit einiger Zeit nur noch negative Schlagzeilen macht, wollen wir hinfahren und uns in Moskau umschauen.

Ein paar Wochen später steht eine kleine deutsche Reisegruppe im Sonnenschein auf dem Roten Platz und schaut sich um. Wir lachen über die lustigen bunten Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale und zerbrechen uns den Kopf über fünf kyrillische Buchstaben, die wir auf einem Gebäude an der Kreml-Mauer entdeckt haben. Der erste Buchstabe ist ein auf dem Kopf stehendes V, dann folgt ein E, ein H, ein umgedrehtes N und wieder ein H. Was bedeutet das?

Den Kopf zerbrechen sich in diesem Moment allerdings nur die Kinder. Die Erwachsenen können zwar auch kein Russisch, aber sie haben die Reise natürlich sorgfältig vorbereitet und wissen, was die fünf Buchstaben bedeuten. L-E-N-I-N. Wir stehen vor einem touristischen Hotspot: vor dem Mausoleum, in dem seit 1924 ein toter Kommunist aufgebahrt und zur Schau gestellt wird. In der Schlange der Wartenden entdecken wir viele russische Familien und fragen uns, ob ein Mausoleum mit einem toten Revolutionär eine kindertaugliche Sehenswürdigkeit ist. Wie in einer endlosen Prozession schieben sich die Besucher erst durch die Sicherheitsschleuse und danach durch die schwach erleuchtete Grabkammer. Dort darf man nicht sprechen, nicht stehen bleiben und nicht fotografieren. So dauert die Begegnung mit dem einbalsamierten Lenin in seinem gläsernen Schneewittchensarg maximal zwei Minuten, und schon ist man wieder draußen und wird von grimmigen Aufpassern zur Nekropole an der Kreml-Mauer geschickt, vorbei an den Gräbern von Breschnew, Andropow, Tschernenko und Stalin. Das Stalin-Grab ist leicht zu erkennen, es ist das Grab mit den meisten Blumen.

Sightseeing mit Gruselfaktor. Für große Kinder ist das Mausoleum spannend, für die kleinen ist es zu düster, sie sollten besser draußen bleiben. Zum Glück kann man auf dem Roten Platz sofort ein Alternativprogramm starten: Eis essen und Flanieren im Kaufhaus Gum, das eigentlich kein Kaufhaus ist, sondern eine gigantische Shopping Mall. Oder ab in den Kreml. Auch dort sind die Ausstellungsstücke gigantisch. Hinter der dicken Kreml-Mauer, die mit ihren Türmen an eine Ritterburg erinnert, steht die Zarenkanone – im Guinness-Buch der Rekorde gelistet als größte Haubitze der Welt – direkt neben der dicken Zarenglocke, ebenfalls weltrekordverdächtig.

Andere Kostbarkeiten aus der Zarenzeit befinden sich in der so genannten Rüstkammer: elegante Abendkleider, die von den Damen am Zarenhof getragen wurden. Mit Taillen, so eng geschnürt, dass die Damen in den Roben öfter mal atemlos waren und umgefallen sind. Da staunen die aus Deutschland angereisten jungen Mädchen. Auch der ausgestellte Stiefel von Peter dem Großen überrascht: Der Zar hatte bei einer Körpergröße von 2,04 Meter nur Schuhgröße 39. Die Jungs finden das alles aber nur mäßig spannend und sind schon weitergelaufen zu den Ritterrüstungen und Kettenhemden aus den Kriegen gegen die Türken und die Schweden. Ihre Erziehungsberechtigten stehen derweil vor einer Vitrine, die mit wunderschönem Porzellan aus der französischen Sèvres-Manufaktur gefüllt ist. „Ein Geschenk von Napoleon an Zar Alexander den Ersten“, erklärt Angela, eine russische Dame, die uns durch die Ausstellung führt und in perfektem Deutsch die Highlights im Kreml präsentiert.

Dazu gehört selbstverständlich auch das Büro von Herrn Putin. Hinter einem Fenster in der zweiten Etage sitze er an seinem Schreibtisch, sagt die Kreml-Expertin leise und deutet mit einer diskreten Handbewegung auf ein ockerfarbenes Gebäude auf der anderen Straßenseite. Augenzwinkernd fügt sie hinzu, dass Putin ein sehr kleiner Mann sei, kaum größer als ein Junge. Wir zwinkern zurück und folgen der netten Angela in ein Spezialgeschäft für russisches Kinderspielzeug, das ein paar Straßen entfernt ist. Dort steigen wir hinab ins Souterrain, bekommen zur Begrüßung einen Wodka serviert und stehen vor Regalen, aus denen uns Hunderte Matroschkas anlächeln. In Angelas Spezialgeschäft sind die bunten Holzpuppen etwas teurer als in anderen Läden, auch teurer als im Souvenirshop unseres Hotels. Egal – die Kinder sind begeistert und greifen zu, die Erwachsenen zahlen. Angela lacht und wünscht uns eine gute Zeit in Moskau.

Wir werden nun immer mutiger und beschließen, auch die Außenbezirke zu erkunden, denn dort befinden sich weitere Highlights für kleine Touristen: der russische Staatszirkus im Süden und das Kosmonautenmuseum im Norden. Um Geld zu sparen, verzichten wir auf teure Taxifahrten und stürzen uns ins Getümmel der Metro. Wir finden heraus, dass man die Fahrkartenautomaten umschalten kann von Russisch auf Englisch und beobachten, dass russische Jugendliche in der U-Bahn ungefragt den Platz freigeben für alte Menschen. Das finden wir gut und meinen, dass allein aus diesem Grund jedes deutsche Kind in Moskau einmal mit der Metro fahren sollte. Aber im Gedrängel der Rush Hour braucht man auf jeden Fall gute Nerven und würde die Kinder am liebsten an sich festbinden. Wir sind jedes Mal froh, wenn wir auf den Umsteigebahnhöfen im Untergrund den richtigen Ausgang erwischen mit einer Rolltreppe, die nach oben zum Tageslicht führt und nicht auf einen anderen Bahnsteig.

Im Zirkus geht ein Raunen durch die Menge, als die Artisten am Trapez danebengreifen und fast abstürzen. Andere bleiben unten und präsentieren eine zackige Bodenturn-Show mit olympiareifen Sprüngen und Überschlägen. Zwischendurch gibt’s eine Nummer mit dressierten Pudeln, auch eine Schlange und ein Krokodil werden kurz in die Manege geworfen. Die Kinder finden den Zirkus super, die Erwachsenen wundern sich, wie hier mit exotischen Tieren umgegangen wird. Aber man will ja kein Spaßverderber sein. Auch nicht im Kosmonautenmuseum. Die Hauptattraktionen sind die begehbare Raumstation Mir und zwei Schaukästen im Eingangsbereich, vor denen viele Kinder stehen. Wir nähern uns und entdecken zwei ausgestopfte Hunde. Sie heißen Belka und Strelka. Auf einer russisch-englischen Infotafel lesen wir, dass die beiden Hunde am 19. August 1960 als Passagiere einer Rakete in den Weltraum geschossen wurden und nach 24 Stunden in einer winzigen Raumkapsel auf die Erde zurückkehrten. Lebendig.

Belka und Strelka sind Helden der russischen Raumfahrt. Für ihren letzten Auftritt im Schaukasten des Museums wurden die Weltraumhunde so präpariert, dass ihr Kopf geneigt ist und ihr Blick für immer in den Himmel gerichtet sein wird. Da denken wir noch einmal an den präparierten Lenin in seinem Schneewittchensarg auf dem Roten Platz. Auch sein Kopf ist geneigt, aber seine Augen sind für immer geschlossen.