Oliver Burgard

Journalist, Redakteur, Redaktionsleitung, Berlin

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Reportage

Der Osten strahlt - Ausflug in ein stillgelegtes Kernkraftwerk

Reportage aus dem Kernkraftwerk im brandenburgischen Rheinsberg, das 1990 abgeschaltet wurde und sich seit 1995 im Rückbau befindet

Wo früher die Energie für den Aufbau des Sozialismus produziert wurde, tut sich heute ein Abgrund auf. Durch ein Bullauge aus dickem Glas fällt der Blick von oben in eine leere Halle, unten klafft ein großes, schwarzes Loch. Genau hier hat man viele Atomkerne gespalten, um die DDR mit Energie zu versorgen: im Reaktor des ältesten Kernkraftwerks auf deutschem Boden, 80 Kilometer nördlich von Berlin, in einem Waldgebiet bei Rheinsberg in Brandenburg. Früher blickten die Mitarbeiter des so genannten Kombinats Kernkraftwerke "Bruno Leuschner" durch das Bullauge, um das Austauschen der Brennelemente zu überwachen. Heute blicken vor allem Touristen hindurch und lassen sich von Teilzeit-Tourguide Jörg Möller erklären, wie das Kraftwerk früher funktioniert hat und was nach der Stilllegung passiert ist.
Mittwochs ist im Rheinsberger Atomkraftwerk Besuchertag. Eine Besichtigungstour dauert drei Stunden und kostet nichts. Die Besichtigung beginnt in einem bescheidenen Flachbau am Rand des Kraftwerksgeländes, in dem früher der sozialistische Ingenieurnachwuchs, auch aus osteuropäischen Nachbarländern, kerntechnisch geschult wurde. Der Rheinsberger Ingenieur Jörg Möller, ein vollbärtiger Mittfünfziger, hat für seine Besucher einen halbstündigen PowerPoint-Vortrag vorbereitet. Er erklärt, welche Teile des Kraftwerks bisher demontiert wurden und welche technischen Probleme dabei aufgetaucht sind. Die Besucher lernen, welche "Zerlege-Optionen" für welches Material geeignet sind: Beton kann mit diamantbeschichteten Seilsägen zerschnitten, Stahl mit Drehbänken zerteilt werden.
Besonders kompliziert war die Demontage des strahlenden Reaktors. Dazu hat man die Reaktorhalle mit Wasser geflutet und zwischen der Reaktorhalle und dem Maschinenhaus einen Leitstand eingerichtet, um die Abrissarbeiten per Joystick und Kamera zu steuern. Eingesetzt wurden dabei Bandsägen und ein Plasmaschneider, der festes Material verdampfen kann und "wie ein Zauberschwert" durch das Material geht. Später wurde der zerlegte Reaktor ins Zwischenlager nach Lubmin bei Greifswald verfrachtet und in Halle 7 untergebracht.
Nach dem Einführungsvortrag führt Möller die Besucher in das Verwaltungsgebäude und durch eine Sicherheitsschleuse in das Maschinenhaus. Dort standen vor der Demontage Turbine und Generator für die Stromerzeugung. Danach geht es weiter in die Blockwarte und in den kleinen Raum mit dem Bullauge, hinter dem sich früher der Reaktor befand. Die Stimmung auf dem Gelände ist ruhig und friedlich, die Sonne scheint, Vögel singen. Möller erzählt, dass in einigen Bereichen der Anlage Schutzkleidung getragen werde, weil diese Bereiche immer noch radioaktiv kontaminiert seien. Doch davon kriegen Besucher auf ihrem Rundgang nichts mit.
Jörg Möller hat mehr als sein halbes Leben im Rheinsberger Atomkraftwerk verbracht. Nach dem Abitur hat er Maschinenbau und Atomtechnik in Magdeburg und Zittau studiert und damit eine Familientradition fortgesetzt. Sein Vater war Physiker und am Aufbau der Rheinsberger Anlage beteiligt, die 1966 in Betrieb ging. Der Sohn kam 1984 als studierter Ingenieur ins Kraftwerk, leistete sechs Jahre lang seinen persönlichen Beitrag zur Energieerzeugung. Bis zum 1. Juni 1990 – dem Tag der Abschaltung: "Damals haben viele gedacht, dass der Laden hier dichtgemacht wird und alle schnell ihre Jobs verlieren." Doch dann kam es ganz anders.
25 Jahre nach der Abschaltung gehört das Kernkraftwerk immer noch zu den wichtigsten Arbeitgebern der Region. Von den 670 Mitarbeitern, die 1989 auf dem Gelände beschäftigt waren, sind mehr als 100 übrig. Ihre Aufgabe ist der Rückbau. Und der ist noch lange nicht abgeschlossen. Deshalb bietet die staatliche Betreibergesellschaft Energiewerke Nord (EWN) die Möglichkeit, das Kernkraftwerk zu besichtigen: "Die Leute fragen sich natürlich, was wir hier machen und warum der Rückbau so lang dauert."
Solche Fragen drängen sich tatsächlich auf, weil der Rückbau auf den ersten Blick keine sichtbaren Spuren hinterlassen hat. Im Gegenteil: 25 Jahre nach der Abschaltung sieht das Kernkraftwerk aus, als hätte man hinter der grauen Mauer, die das Gelände umgibt, ein Stück DDR konserviert. Das riesige Maschinenhaus, das Reaktorgebäude mit dem turmhohen Schornstein, die flachen Nebengebäude, die Bahngleise für den Transport des radioaktiven Materials: Alles scheint im Originalzustand erhalten. Das Verwaltungsgebäude mit seinem eleganten Treppenhaus, den gekachelten Säulen im Foyer, den bunten Markisen und den auf Hochglanz polierten Fußböden – ein Musterbeispiel für DDR-Architektur aus den 1960er Jahren. Das fensterlose Schaltzentrum der Anlage, die sogenannte Blockwarte, bestückt mit altmodischen Schaltpulten, Knöpfen und Hebeln, ist ein authentischer Ausstellungsraum für ostdeutsche Elektronik des prädigitalen Zeitalters.
Vieles werde bleiben, sagt Möller. Denn das Ziel des Rückbaus sei nicht der Abriss der Gebäude, sondern die "Entlassung aus dem Atomgesetz". Die ist aber erst dann möglich, wenn alle Gebäude auf dem Gelände dekontaminiert sind. Dazu muss man, simpel ausgedrückt, eigentlich nur die Oberflächen der Wände, Decken und Böden reinigen oder abfräsen, um die strahlenden Partikel zu beseitigen. Aber in Rheinsberg ist das nicht so einfach, weil es sein könnte, dass nicht nur die Oberflächen, sondern auch die Leitungen in den Wänden der Gebäude radioaktiv kontaminiert sind. "Viele Rohrleitungen hat man damals in die Wände eingebaut, um sie vor Strahlung zu schützen", erklärt Möller. Ob das funktioniert hat, ist heute allerdings unklar. Und das ist nicht das einzige Problem, das noch nicht gelöst ist. Auch die Hinterlassenschaften eines Störfalls aus den 1980er Jahren sind noch nicht komplett beseitigt.
Vor der Entlassung aus dem Atomgesetz hat das Rückbau-Team also noch viel zu tun. Danach wäre das Gelände frei für eine neue Nutzung, und es gibt sogar schon konkrete Pläne. Ein Rheinsberger Verein setzt sich dafür ein, auf dem Kraftwerksgelände ein Innovationszentrum für Klimafolgenanpassung einzurichten. Doch es wird noch einige Zeit vergehen, bis die Gebäude für eine neue Nutzung bereitstehen. Zehn Jahre werden die Aufräumarbeiten wohl noch dauern, schätzt Möller. Das würde bedeuten, dass der Rückbau des Atomkraftwerks, der 1995 begonnen wurde, insgesamt 30 Jahre gedauert hätte. Mindestens. Für den Aufbau reichten sechs.