Oliver Burgard

Journalist, Redakteur, Redaktionsleitung, Berlin

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Reportage

Paderborn: Dieser Ort bei Bielefeld

Reisebericht aus Ostwestfalen, geschrieben für die Serie "Die unterschätzte Stadt" von Zeit Online

Pa-der-born. Die ersten beiden Silben werden zusammengezogen, und die Betonung gehört nach hinten. Pader-born. Das muss einfach mal gesagt werden, denn es gibt zu viele Menschen, die den Namen der Stadt falsch aussprechen. Den Paderbornern tut das weh in den Ohren.
Eine andere Sache, die vielen Paderbornern in den Ohren wehtut, ist die Frage nach der größeren Stadt. Vor allem die ausgewanderten Paderborner kennen das: "Ach, du bist in Paderborn aufgewachsen? Gibt es denn da in der Nähe eine größere Stadt?" Paderborn hat fast 150.000 Einwohner, eine Universität mit knapp 20.000 Studenten, eine mehr als 1.000-jährige Geschichte und eine brummende Wirtschaft – da braucht man keine größere Stadt in der Nähe. Und wenn man doch mal eine braucht, ist man über die A33 ruckzuck in Bielefeld.
Die zweite größere Stadt, der man sich in Paderborn nahe fühlt, ist Rom. Manche Paderborner haben einen sehr guten Draht zum Vatikan. Das merkte man, als Papst Johannes Paul II. auf seiner Deutschlandreise im Juni 1996 nur zwei deutsche Städte besuchte: die Hauptstadt Berlin und das Erzbistum Paderborn. Die Tagesschau zeigte abends Bilder vom Papst, umgeben von jubelnden Paderborner Kindern. Eine Anti-Papst-Demo zeigte die Tagesschau nicht – konnte sie auch nicht, es gab keine. Kritische Stimmen zum Papstbesuch wären in anderen Städten normal, in Paderborn nicht. Da darf man sich nicht wundern, dass die Stadt als konservativ-klerikal-katholisch gilt. Schwarz, schwärzer, Paderborn.
Was die meisten aber nicht wissen: Paderborn ist ganz schön schräg. Nicht mental, aber geologisch. Die Stadt befindet sich auf einem Knick in der Landschaft. Nach Westen ist das Gelände total flach, nach Osten geht es hinauf zur Paderborner Hochfläche. Der Knick in der Landschaft zieht sich mitten durchs Stadtzentrum. Halb Paderborn steht also gewissermaßen schräg, auch die halbe Innenstadt. Der flache Teil der Innenstadt ist am schönsten – hier entspringt ein Fluss, die Pader, aus mehr als 200 Quellen. Im Paderquellgebiet plätschert und sprudelt es quasi unter jedem Stein. Es gibt viele kleine Brücken, Teiche und Wasserläufe, mittendrin eine hübsche Stadtbibliothek im barocken Stil, daneben ein winziges Fachwerk-Viertel und einen verwunschenen Park, den Geißelschen Garten.
Mit nur vier Kilometern Länge von den Quellen bis zur Mündung in einen anderen Fluss, die Lippe, ist die Pader der kürzeste Fluss Deutschlands. Was ihr an Länge fehlt, macht sie wett mit einer verwirrenden Vielzahl an Nebenläufen und Seitenarmen. Es gibt eine Dielen-Pader, eine Damm-Pader, eine Börne-Pader, eine Rothoborn-Pader, eine Maspern-Pader, eine warme Pader, die früher Wasch-Pader genannt wurde, und seit einigen Jahren auch einen Pader-See. Selbst die alteingesessenen Paderborner verlieren da leicht die Orientierung und verwechseln die Maspern-Pader schon mal mit der Rothoborn-Pader.
Oberhalb der Paderquellen befindet sich das Highlight der Stadt. Es ist der Dom. Er steht am Marktplatz hinter dem Diözesanmuseum. Den Dom betritt man am besten durch das Paradiesportal, und innen sollte man sich unbedingt die Krypta mit der Grablege des heiligen Liborius anschauen. Durch den Hinterausgang erreicht man den kargen, gotischen Domkreuzgang, wo ein wenig Der-Name-der-Rose-Flair aufkommt. Völlig unvermittelt steht der Dom-Besucher hier plötzlich vor dem mysteriösen Wahrzeichen der Stadt. Es ist eine Steinmetzarbeit aus dem 16. Jahrhundert: das Dreihasenfenster. Drei steinerne Hasen sind an den Ohren zusammengewachsen und laufen seit 500 Jahren im Kreis. Vor dem Fenster zitieren die Paderborner gern einen rätselhaften Zweizeiler, der seit Generationen von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird: "Der Hasen und der Löffel drei, und doch hat jeder Hase zwei."
Andere Traditionen werden weniger konsequent gepflegt. Kulinarische Besonderheiten wie den westfälischen Pfefferpotthast, ein Eintopf mit Rindfleisch, oder Spanisch Fricco, ebenfalls ein Eintopf mit Fleisch, findet man nur noch in Kochbüchern. Von den Speisekarten der Paderborner Gastronomie wurden sie leider fast überall gestrichen. Das Paderborner Bier ist auch nicht mehr das, was es mal war. Nur noch die älteren Paderborner kennen die lustigen "Snobby"-Flaschen, in die das Bier früher abgefüllt wurde und deren Design an Handgranaten erinnerte.
Deutlich besser funktioniert die Traditionspflege beim Brot. Das typische Paderborner Brot ist ein saftiges, doppelt gebackenes Roggenmischbrot und hat es überregional immerhin in die Regale einer bekannten Bio-Kompanie geschafft. Nationale Beachtung findet die Stadt aber nicht nur dank der Backkünste. Viel wichtiger war, was am 12. Mai 2014 passiert ist. An diesem Tag stieg der Fußballclub SC Paderborn 07 durch einen Zwei-zu-eins-Sieg gegen den VfR Aalen in die erste Bundesliga auf. Eine Sensation. Die noch größere Sensation folgte wenig später, als der westfälische Aufsteiger im September sogar die Tabellenführung übernahm. Nach dem fulminanten Start ging es für die Paderborner in der Tabelle dann allerdings nur noch in eine Richtung – nach unten. Inzwischen zittert die ganze Stadt um den Klassenerhalt.
Wenn die Mannschaft nach ihrer ersten Bundesliga-Saison gleich wieder absteigen sollte, würde Paderborn damit an seine Tradition als Stadt der nicht erfüllten Hoffnungen anknüpfen. Auch der Paderborner Nixdorf-Konzern, in den 1980ern als Computerpionier fast auf Augenhöhe mit Microsoft, hat die Erwartungen der Stadt nicht ganz erfüllt und wurde schließlich von Siemens geschluckt. Vorher erlebte die Stadt immerhin einen Modernisierungsschub – dank Nixdorf bekam Paderborn einen Autobahnanschluss und einen Flughafen. Dafür sind die Paderborner bis heute dankbar.