Oliver Burgard

Journalist, Redakteur, Redaktionsleitung, Berlin

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Reportage

Summertime in Ontario

Reisereportage aus Kanada: Steile Klippen, stille Ufer, Sandstrand und Farmland – die Bruce-Halbinsel im Huron-See gehört bei Kanadiern traditionell zu den beliebtesten Zielen für die Sommerferien. Ein Streifzug durch die kanadische Sommerfrische


Friedlich und still liegt die kleine Bucht in der Mittagssonne. Am Ufer plätschern die Wellen, im flachen Wasser stehen einige Kinder und machen Selfies. Eine perfekte Idylle, doch plötzlich macht sich Unruhe breit, eine junge Frau kreischt, die Kids springen aus dem Wasser. Sie haben ein neues Fotomotiv entdeckt und richten ihre Handykameras auf ein Tier, das mit eleganten Bewegungen und erhobenem Kopf durchs Wasser zieht. Eine Schlange. Im kristallklaren Wasser ist das armlange Reptil gut zu erkennen und schlängelt ohne jede Scheu am Ufer entlang.
Damit muss man hier rechnen. Die kleine Bucht liegt im Bruce Peninsula Nationalpark am Ufer der Georgian Bay im kanadischen Ontario und bietet gute Chancen, die eine oder andere wilde Kreatur vor die Kamera zu kriegen. In den dichten Wäldern tummeln sich mehr als 200 Tierarten, darunter Klapperschlangen und Schwarzbären. Auf einer Tafel am Parkeingang werden die Besucher aufgefordert, ihre #animalsightings auf Facebook und Twitter zu posten, doch am Ufer von Little Cove, so heißt die Bucht, gibt es kein Handynetz und kein Wlan. So können wir unsere Schlangenfotos in diesem Moment leider mit niemandem teilen und fragen uns, ob man jetzt noch ins Wasser gehen darf oder nicht. Die anwesenden Kanadier wirken auch ziemlich ratlos: „Könnte eine Klapperschlange sein“, spekuliert ein Mann und schaut unsicher in die Runde.  Das Badevergnügen in Little Cove ist vorbei, doch das macht nichts, denn diese Bucht ist nur eine von vielen spektakulären Badestellen im Nationalpark auf der Bruce-Halbinsel. Und wenn nicht gerade eine Schlange vorbeischwimmt, möchte man am liebsten sofort ins Wasser springen oder zumindest die Füße hineinhalten – so verführerisch glitzern die Fluten der Georgian Bay in der Sonne über den Kalksteinfelsen und leuchten in Ufernähe in einem beeindruckenden Farbenspiel von Hellblau bis Smaragdgrün. Die Erfrischung nach der Wanderung durch den Nationalpark ist garantiert, denn die Wassertemperatur steigt selbst im Hochsommer selten über 20 Grad. Optisch mag das Wasser an Strände in den Tropen erinnern, aber beim ersten Kontakt wird klar, dass man eben doch nicht in der Karibik ist, sondern mitten in Kanada, am Ufer des Huron-Sees, der die Halbinsel umgibt.
Um den Nationalpark mit seinen Wäldern, Felsen, Buchten und Klippen zu erkunden, braucht man solides Schuhwerk, wirksamen Insektenschutz und ein bisschen Geduld. Verschiedene Trails führen durch den Wald und von Bucht zu Bucht. Manche sind so komfortabel wie die Spazierwege in einem Schlosspark, doch auf anderen muss man sich durchs Unterholz kämpfen, steile Aufstiege bewältigen und kommt deshalb nur langsam voran. Wer nicht genau hinschaut, übersieht leicht die weißen Markierungen an den Bäumen, die den Weg weisen, und verläuft sich im grünen Dickicht, wo unzählige Moskitos auf Beute lauern.

Die Highlights im Nationalpark sind „the Grotto“, eine riesige Höhle im Felsen, in die man hineinschwimmen kann, und wenige Schritte entfernt die „Indian Head Cove“, eine Bucht, die von steilen Felsklippen umgeben ist. Sie zieht viele junge Männer an, die sich trotz eines Verbots der Parkverwaltung todesmutig von den Klippen in die dunklen Fluten stürzen. An manchen Tagen, vor allem an den Wochenenden, ist der Andrang so groß, dass die Parkverwaltung ein Drei-Schichten-System für den nächstgelegenen Parkplatz eingeführt hat. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte rechtzeitig ein Parkticket online reservieren. Wer ohne Reservierung kommt, muss mit längeren Wartezeiten rechnen: Als wir morgens um 10 Uhr vor der Schranke stehen und um Einlass bitten, erklärt der freundliche junge Ranger, dass die wenigen freien Parkscheine nach dem Motto „First come, first served“ vergeben werden und dass es an diesem Tag nur noch Tickets für den dritten Slot gibt – von 17 bis 21 Uhr. „Gehen Sie vorher wandern oder besuchen Sie Tobermory“, empfiehlt er und schickt uns zurück auf den Highway.

Eine Wanderung haben wir schon gemacht – also auf nach Tobermory. Der winzige Ort im Norden ist die inoffizielle Hauptstadt der Halbinsel, aber eigentlich kaum mehr als ein Hafen mit ein paar Fish-and-Chips-Buden und Motels. Im Hafen von Tobermory dümpeln fette Yachten von amerikanischen Millionären neben Ausflugsbooten, auf denen Touristen die Schiffswracks besichtigen, die in der Nähe des Ufers im klaren Wasser liegen. Auch starten von hier mehrmals täglich mächtige Autofähren gen Norden. Sie sind knappe zwei Stunden unterwegs und erreichen dann Manitoulin, eine Insel im Huron-See, die einen Weltrekord hält – es ist die weltgrößte Insel in einem Binnensee. Außerdem befindet sich in Tobermory auch das Visitor Center für den Nationalpark, das man unbedingt besuchen sollte, weil es hier Flyer gibt, auf denen die besten Trails eingezeichnet sind. Besonders praktisch: Direkt nebenan startet ein kurzer Spazierweg, man kann in ein paar Minuten durch den Wald zur Felsküste herüberlaufen und braucht dazu nicht mal Wanderschuhe. Müheloser als hier lässt sich der Nationalpark nicht entdecken.

Im Sommer und Herbst ist der kleine Ort schnell ausgebucht, obwohl er eigentlich wenig zu bieten hat außer dem hübschen, quirligen Hafen und einer optimalen Lage, um von hier aus Wanderungen durch den Nationalpark zu starten. Wer die kanadische Sommerfrische sucht, wird aber auch auf der anderen Seite der Halbinsel fündig. Das Gute an der Bruce Peninsula ist ihr handliches Format: Sie ist nur 90 Kilometer lang und maximal 20 Kilometer breit, mit dem Auto kommt man schnell von einer Seite auf die andere. Und trotz ihrer kleinen Fläche bietet die Halbinsel eine Menge von dem, was das riesige Land Kanada auszeichnet: im Norden den ganzjährig geöffneten Nationalpark mit wildem Wald, der zu allen Jahreszeiten viele Wanderer anzieht, und im Süden eine Farmlandschaft wie aus dem Bilderbuch, die mit ihren saftigen Wiesen, fetten Kühen und hübschen nordamerikanischen Bauernhäusern eine perfekte Kulisse für einen Werbespot abgeben würde.

So unterschiedlich wie die Landschaften sind auf der Bruce Peninsula auch die Küsten: im Osten die felsigen Klippen der Georgian Bay, im Westen endlose Sandstrände und angenehme Wassertemperaturen oberhalb von 20 Grad. Die Badesaison dauert traditionell von Ende Juni bis zum Labour Day Anfang September, aber an schönen Spätsommertagen ist es auch danach noch warm genug, um am Strand zu relaxen und im See zu baden.

Mit einem 11 Kilometer langen Sandstrand zieht der Badeort Sauble Beach viele kanadische Familien mit kleinen Kindern an. Der Strand ist flach, an manchen Stellen kann man 50 Meter in den See hineinlaufen und steht nur knietief im Wasser – beste Bedingungen, um die Kleinen unbesorgt planschen zu lassen. Die etwas älteren Kinder chillen nach einem Strandtag gern auf der Main Street, flippern in der Arcade-Spielhalle oder gönnen sich einen süßen Beaver Tail. Der frittierte Teigfladen ist das kanadische Pendant zum amerikanischen Doughnut und wird in einer kleinen roten Hütte am Lakeshore Boulevard über den Tresen gereicht. Besonders lecker ist die simple Variante mit Zucker und Zimt, aber man kann den Biberschwanz auch mit vielen bunten Toppings beladen. Danach lockt Live-Entertainment auf einer Wiese vor dem Two Chicks Café – ein Mann mit Gitarre singt gegen die schlechte Popmusik der lokalen Radiostationen an, die aus den Lautsprechern vom Beach Burger herüberdröhnt.

Am Ende des Tages zieht es in Sauble Beach viele Menschen noch einmal an den Strand, denn die Sonnenuntergänge sind spektakulär. Wenn die Sonne wie ein Feuerball im Huron-See versinkt und die dunklen Silhouetten der Stand-up-Paddler in der roten Abenddämmerung verschwimmen, wähnt man sich schon wieder an einem exotischen Ort irgendwo weit im Süden und vergisst fast, dass man immer noch im kanadischen Ontario ist und gar nicht weit von der größten Metropole des Landes. Nur drei Autostunden entfernt ist Toronto, die kanadische Boom-Town, die in den letzten Jahren mächtig gewachsen ist. Im Großraum von Toronto leben mehr als sechs Millionen Menschen, und viele wissen es sehr zu schätzen, dass „the Bruce“, so wird die Halbinsel von den Einheimischen genannt, quasi vor ihrer Haustür liegt. Vor allem an den Wochenenden machen sich viele Torontonians auf den Weg: „Die Halbinsel hat einen rauen Charme und wirkt an manchen Stellen so, als wäre dort die Zeit stehen geblieben – ein perfektes Kontrastprogramm zur Großstadt“, sagt Ahmed Allahwala. Er arbeitet als Professor für Sozialgeografie und City Studies an der University of Toronto und verbringt im Sommer gern die Wochenenden auf der Halbinsel. Seine Lieblingsorte auf der Bruce Peninsula? „Sauble Beach, weil der Ort ein besonderes Retro-Flair hat, und die Ufer der Georgian Bay, weil die Felsküste wirklich grandios ist.“  

Für Menschen aus Toronto ist der kürzeste Weg auf die Halbinsel der Highway 6, der von Süden kommt und wie mit dem Lineal gezogen schnurgerade bis zur Spitze der Halbinsel läuft. Eine attraktive Alternative zum Highway ist der Scenic Drive zwischen Wiarton und Owen Sound. Die Grey Country Road 1 gilt als eine der schönsten Autostrecken Kanadas, am Straßenrand leuchten die herausgeputzten Cottages, und zwischen den Bäumen gibt es immer wieder Lookouts mit weiten Blicken über die Georgian Bay. „Wer genug Zeit hat, sollte runter vom Highway und ein paar Umwege machen, das lohnt sich“, sagt Ahmed Allahwala, der Professor aus Toronto. Er empfiehlt einen Besuch im Cape Croker Park: Die abgelegene Landzunge Cape Croker steht unter der Verwaltung der Chippewas of Nawash, eine von mehr als 600 in Kanada lebenden indigenen Gruppen, die früher Indianer genannt wurden und seit einigen Jahren als kanadische „First Nations“ bezeichnet werden. Der Cape Croker Park mit seinen einsamen Waldwegen ist beliebt bei Wanderern und auch bei Campern, die ihre Zelte im Wald aufschlagen dürfen oder ihre Wohnwagen auf einer Wiese am Seeufer abstellen. Eine besondere Attraktion ist das Pow Wow, das jedes Jahr im Park stattfindet: ein traditionelles Fest der nordamerikanischen Ureinwohner, bei dem gemeinsam gesungen und getanzt wird.

Wer nur einen Tag oder ein Wochenende auf der Halbinsel verbringen möchte und keine Zeit für Umwege hat, kann natürlich auch auf dem kürzesten Weg an den Strand oder in den Nationalpark fahren. Die gute Nachricht lautet: Keine Angst vor Reptilien im Wasser. Das erfahren wir nach unserem Ausflug, als wir unser Schlangenfoto auf Twitter posten und um Aufklärung bitten: Wie gefährlich ist dieses Tier? Wenig später twittert der Nationalpark zurück: Entwarnung. Das Reptil im See war keine Klapperschlange, sondern eine harmlose Wassernatter. Diese Schlangenart ist „ungiftig, kurzsichtig und neugierig“, steht im Tweet des Nationalparks. Mit anderen Worten: Die beißt nicht, die will nur spielen.