Um einen
Mord geht es in Nina Wähäs Roman - das erfährt man bereits, bevor die
eigentliche Geschichte beginnt, im Vorwort. Aber es geht nicht nur um diesen
Mord, sondern vor allem um die Familiengeschichte um ihn herum.
Annie ist schwanger, als sie in den 1980er Jahren von Stockholm, wo sie lebt, zu ihrer Familie reist. Sie fährt zum Weihnachtsbesuch nach Hause, auf den Hof im Norden Finnlands, auf dem sie aufgewachsen ist. Dass sie mit ihrer künftigen Mutter-Rolle und den Gefühlen zu dem Vater des Kindes hadert, spielt eine untergeordnete Rolle.
„Heimkommen ist immer etwas Spezielles. Entweder man freut sich darauf, oder man freut sich nicht, aber egal ist es einem nie. Bei Annie rief es jedes Mal widerstreitende Gefühle wach. Einerseits negative – weil sie immer eine gewisse Angst befiel, dass ihr Elternhaus bei der Heimkehr seine Krallen in sie schlagen könnte und sie plötzlich dort festsitzen würde. Gefangen, zurückgeworfen, rein physisch außerstande, sich wieder loszureißen und zu sich nach Hause zu fahren. (...)
Andererseits positive Gefühle – weil mehrere ihrer Geschwister (genau genommen die meisten) noch zu Hause wohnten. Die Bindung zu ihnen war stark und manchmal beinahe körperlich spürbar. Als wären sie, wenn nicht durch ihre Nabelschnüre, so durch andere unsichtbare starke Bande miteinander verknüpft. Wie ein Rattenkönig an den Schwänzen verknotet, unfreiwillig zusammengewachsen. So lebten sie ihre Leben, Seite an Seite, nie allein, immer vereint.“
Sie halten die Familie zusammen: Siri als versorgende Mutter und Pentti als gemeinsames Feindbild.
Während die Mutter ihre Bedürfnisse und ihr ganzes Leben dem unterordnet, was zu tun ist und Kraft aus ihren Kindern und jeder Geburt zieht, scheint Pentti zu niemandem in seiner Familie eine innere Bindung zu haben. Der Vater erniedrigt, bedroht und schlägt seine Frau und Kinder. Wenn er den Raum verlässt, atmen die anderen auf.
Als schließlich der älteste Sohn das Maß als übervoll erkennt, veranlasst er mit seinen Geschwistern eine Aussprache, die die Mutter zur Scheidung bewegen soll. Dies löst eine Kette von Ereignissen aus, an deren Ende eine Person stirbt – und die die Familie und ihre Beziehungen untereinander nachhaltig verändert.
Gemeinsam einsam
Auch wenn es eng und laut werden kann, wenn alle Familienmitglieder zusammenkommen, erzählt Nina Wähäs Roman vor allem von der Einsamkeit jedes und jeder Einzelnen. Gesehen oder verstanden fühlt sich keines der Familienmitglieder, von denen alle zu Hauptpersonen des Buches werden. Zwar gibt es unter den sehr unterschiedlichen Geschwistern immer wieder auch Verbundenheit und Bündnisse, aber auch sie zerfallen im Laufe der Zeit zum großen Teil wieder und hinterlassen Gefühle der Isolation und Enttäuschung. Etwa so, wie Valo es seinem Bruder Voitto gegenüber erlebt:
"Früher hatten sie immer zusammengehalten,
sie beide gegen den Rest der Welt oder, besser gesagt, gegen die restliche
Familie. Doch jetzt fühlte er sich ziemlich einsam.“
Die teils verborgenen Brüche in den Lebensgeschichten legen die Verletzungen der Protagonisten frei, über die niemand offen zu reden imstande ist. Vieles bleibt ungesagt, auch – oder vor allem – in Folge des Mordes.
Wortreiche Selbsterklärung
Bei einer Wendung der Geschichte fällt es jedoch schwer, sie mit der handelnden Figur in Einklang zu bringen. Familienvater Pentti tyrannisiert seine Familie. Weder nimmt er Anteil, noch teilt er sich Anderen mit und schon lange hat er aufgehört, auch nur zu versuchen, mit seiner Frau zu sprechen. In einem langen Brief aber erklärt er sich schließlich so ausführlich, detailreich und wortgewandt, dass zwar die vermutete Absicht hinter seinem Handeln überzeugend erscheint, nicht aber seine Form oder die Reflexion seiner Lebensgeschichte und seines Gefühlslebens.
Nicht alle Menschen leben gottgefällig. Nicht alle Menschen leben für ihre Kinder. Ich zum Beispiel nicht. Eure Mutter hat das für uns beide übernommen. Ich habe mein Leben nach bestem Wissen und Gewissen gelebt und wurde nicht von allen von euch geliebt, das weiß ich. Aber ich bin gerecht, nicht nach allgemeinen Maßstäben, doch ich habe meine eigene Gerechtigkeit, meine innere Richtschnur.“
Heyne Hardcore, München, 544 Seiten, 22 €
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