"Die Hängebuche in Henry Goverts Garten
ist die Hängebuche im Garten seiner Eltern
ist die Hängebuche im Garten meiner Eltern
ist die Hängebuche Henry Goverts
ist Henry Goverts.“
Einen Teil des so vermenschlichten Baumes trägt die Erzählerin von
nun an bei sich. Ein Blatt, von dem nur noch das Skelett übrig ist, wird
zum Guckloch, durch das Anna Ospelt fotografiert. Die tatsächlich so
entstandenen Bilder stehen im Buch als optische Notate neben den schriftlichen.
Spurensuche und Selbsterforschung
Die Recherche beginnt mit einem Einbruch: Die Erzählerin dringt in einen verlassenen Pferdestall im benachbarten Garten ein und findet dort Korrespondenzen und Schriftstücke von Goverts selbst und seinen Weggefährten. Um noch mehr über den Verleger zu erfahren, besucht sie Orte, an denen er Spuren hinterlassen hat. Was sie an dem Mann, den sie nicht einmal kennengelernt hat, jenseits der einstigen Nachbarschaft interessiert, wird im Buch allerdings nicht deutlich – eine mögliche oder erhoffte Seelenverwandtschaft höchstens angedeutet.
Bald dreht sich die Spurensuche im Kreis. Aus den Beobachtungen des Baumes werden Recherchen über den Verleger. Diese führen erneut zu Beobachtungen des Baumes und dessen Wurzeln. Auch anderen Wurzelformen geht Anna Ospelt nach, Zahnwurzeln etwa oder Rhizomen. Letztendlich münden aber alle Beobachtungen in Selbsterfahrungen und Selbstbeobachtungen.
„Ich betrachtete diesen Stammbaum und dachte, dass
ich weder Eiche, Eichel noch Enkelin bin, keine
Frucht,
keine Blüte, kein Blatt und keine Wurzel. Ich bin
Anna.
Ich heiße Anna Barbara Ospelt, und aus den
Buchstaben
meines Namens kann man weder Baum noch
Stamm schreiben. Aber Sonne findet sich in meinem
Namen, Post und Barbar.“
Und im P.S.
„In Anna Barbara Ospelt steckt zwar nicht das Wort
Baum, aber Arbor, lateinisch für Baum. Auch Alon,
maskulin, die hebräische Eiche wächst aus meinem Namen,
genau wie Alona, Femininum von Alon.“
Es sind letztlich gerade die Wurzeln, die den Unterschied zwischen Baum und Mensch bilden. Denn Wurzeln binden an einen Ort. Ein syrischer Comic-Zeichner, erzählt sie, male seinen Figuren Wurzeln an die Köpfe - um sie eben nicht an einem bestimmten und festgelegten Ort zu wurzeln, sondern dort, wo immer die eigenen Wurzeln Nahrung erhalten. Auch der Erzählerin erscheint das gänzlich Wurzellose erstrebenswert.
„Das Gefühl von Heimat gehe dementen Personen
verloren,
weil sie das Gefühl für Raum und Zeit verloren haben.
Ich trage eine befremdliche Sehnsucht nach
Landschaften, an Menschen.“
Sammlung von Fragmenten
Der Rechercheweg der Autorin und die Gedanken des erzählenden Ichs vermischen sich. Sie verwurzeln, verästeln untereinander – und entsprechen damit ihrem Erkenntnisinteresse. Erst ganz am Ende mündet der Text in das Kurzexposé eines Romans, in dem die Erzählerin zur Figur Ivy Blum und ihr Heimatland Liechtenstein zu „Lilienstein“ wird.
Doch eine konsequent erzählte Geschichte mit einem eindeutigen Erzählziel sind die „Wurzelstudien“ nicht. Der Text bleibt eine fragmentarische, assoziativ-poetische Suche. Die weitgehend unstrukturierten Notizen aus ihrem Schreibprozess verwebt Anna Ospelt mit den Fundstücken aus Goverts Nachlass. Schließlich wird die Erzählerin beim Besuch im Staatsarchiv durch ein Missverständnis zunächst selbst nicht mehr mit ihrem eigenen Namen eingetragen, sondern mit dem ihres Recherche-Objektes Goverts.
So, wie sie Pflanzen- und Wurzelteile mikroskopiert, fokussiert sich auch der Text selbst so sehr auf die Details des Beobachteten und Erlebten, dass der Kontext nicht länger sichtbar bleibt und gewollt unfertig wirkt.
Dass selbst Gedanken, die die Erzählerin aus guten Gründen wieder verworfen hat, im Text noch als durchgestrichene Satzteile sichtbar bleiben, unterstreicht dessen Notizhaftigkeit - nichts wird wirklich weggeworfen, alles verwertet und gezeigt. Unfertig bleibt der gesamte Band.
Vieles ist nur angerissen, skizzenhaft und in der Schwebe. Wer aber gerade darin Impulse für die eigene Beobachtung, oder für das eigene Schaffen zu finden vermag, wird sich gerade durch diese Unschärfe eingeladen fühlen, dem Gedanken- und Schreibprozess zu folgen.
Anna Ospelt: „Wurzelstudien“
Limmat Verlag, Zürich, 128 Seiten, 24 Euro.
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