Nora Koldehoff

Freie Autorin / Freie Journalistin, Köln

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"80 000 Arsch huh, 2,56 Mio Zäng ussenander"

Bild: Dirk Gebhardt

Wer zu spät kam, den bestrafte diesmal tatsächlich das Leben: Um kurz nach sieben ging nichts mehr an der Deutzer Werft. Aus Sicherheitsgründen schloss die Polizei die Zugänge zum Kundgebungsgelände, ließ niemanden mehr auf die große, von Absperrgittern unterteilte Fläche vor der großen Bühne. Selbst in den Straßenbahnen liefen Durchsagen, das Gelände sei abgesperrt. Wer sich in der Südstadt an den Rheinauhafen stellte, konnte bei günstigem Wind hören, was drüber auf der Schäl Sick gerade vor sich ging: Die größte Demonstration gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Sozialabbau und Ausgrenzung, die die Stadt seit vielen Jahren erlebt hatte. Und eine gigantische Geburtstagsfeier der beeindruckendsten Bürgerinitiative, die es in Köln je gab – und die ihren Anfang in der Südstadt nahm. Auf dem Chlodwigplatz fand vor 20 Jahren das erste Protestkonzert unter dem Motto „Arsch huh – Zäng ussenander" statt. 1992 hatte die ausländerfeindliche Hetze in Deutschland einen furchtbaren Höhepunkt erreicht, hatten brutale Anschläge auf einzelne Menschen und auf Flüchtlingswohnheimen gezeigt, wozu Menschen auch Jahrzehnte nach dem Ende des Faschismus in Deutschland noch willens und fähig sind.

20 Jahre später sahen die Initiatoren von damals genug Grund für eine neue Veranstaltung. Diesmal allerdings, so die Ankündigung im Mai in der Severinstorburg sollte ein weiterer Aspekt hinzukommen: der Zusammenhang zwischen sozialer Ungerechtigkeit und Neonazismus. „Das wird kein Konzert, das wird eine große Kundgebung einer selbstbewussten Bürgergesellschaft, die sich vieles nicht mehr gefallen lässt", hatte Organisator Karl Heinz Pütz angekündigt. Dafür allerdings war der Chlodwigplatz – 1992 Schauplatz der ersten Arsch huh-Veranstaltung – viel zu klein und nicht gut genug zu sichern. Schon damals war es eigentlich ein Wunder, dass bei rund 100.000 Zuschauern in der Südstadt nichts passierte: Man war allerdings, wie sich Wolfgang Niedecken erinnert, auch sehr überrascht, wie viele Menschen tatsächlich kamen.

Auch diesmal blieb der Platz nicht leer, geschätzte 80.000 Menschen kamen zur Deutzer Werft. Und auch diesmal überraschte die riesige Menge erneut Veranstalter und Polizei – die angrenzende Siegburger Straße wurde sicherheltshaber für den Autoverkehr gesperrt.

Was am Freitagabend unter sternenklarem Himmel an der Deutzer Werft stattfand, wurde weit mehr als ein sentimentales Revival mit Klassentreffencharakter. Hier versicherte sich ein beachtlicher Teil einer deutschen Großstadt ihrer Werte und gab ein Signal nach außen: Solidarität, Mitmenschlichkeit, das gewaltfreie Miteinander von Menschen verschiedenster Herkunft, Ideen, Ziele ist kein sentimentaler Multikulti-Idealismus, sondern kann und muss gelebte Wirklichkeit sein. Eine Alternative gibt es nicht – auch wenn der Kabarettist Jürgen Becker in einem offenen Brief die Heimatbesoffenheit und Folgenlosigkeit der „Arsch huh"-Initiative kritisierte. „Wir weisen auf ein Thema hin", sagte Niedecken hinter der Bühne: „Für die Lösungen sind andere zuständig."

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Montag, 12. November 2012 | Text: Nora Koldehoff

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