Nora Koldehoff

Freie Autorin / Freie Journalistin, Köln

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Artikel

Von Menschen und Mäusen

Bild: Tamara Soliz

Als die erste Boeing den strahlend blauen Himmel über Manhattan zerriss, saß Nadja Spiegelman zum ersten Mal in ihrer neuen Klasse. Das neue Schuljahr hatte in New York an diesem Tag gerade begonnen, und die Tochter des Cartoonisten und Comiczeichners Art Spiegelman war auf die Highschool gewechselt. Als das Flugzeug Minuten später als orangegelber Feuerball im World Trade Center einschlug, rannten ihre Eltern aus der Wohnung in Soho zu ihrer Tochter. „Die Schule lag in unmittelbarer Nähe der Twin Towers", erinnert sich Art Spiegelman. „Als wir auf der Straße waren, sahen wir den zweiten Einschlag in den Südturm. Uns kamen Tausende von Menschen entgegen. Aber wir wollten in die andere Richtung. Als wir die Schule erreichten, war sie fast leer. Aber wir mussten zu unserer Tochter." Ein Jahr später zeichnete Spiegelman die erste von zehn Folgen seiner Comic-Serie mit dem Titel „Im Schatten keiner Türme". In den USA fand er niemanden, der sie veröffentlichen wollte. Weil die Medien überwiegend brav der Bush-Doktrin vom „Krieg gegen den Terror" folgten und sich nicht gegen die Beschneidung von Freiheit und Bürgerrechten wehrten, hatte Spiegelman beim berühmten Magazin „The New Yorker" gekündigt. „Die Presse hier ist ein ängstliches Wesen", begründete er damals seinen Schritt. „Sie ist nicht sehr mutig."

Die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit" veröffentlichte Spiegelmans Serie schließlich zwischen 2002 bis 2003. Ein Jahr später erschien sie auch als Buch. Mitsamt der inzwischen berühmten Rückseite, die einmal mehr mit einem Tabu brach: Spiegelman stellte dar, was in der visuellen Berichterstattung bis dahin immer ausgeblendet worden war – fallende Personen, wehrlose Opfer: Körper, die bald auf dem Boden aufschlagen würden. Er zeichnete sie aber nicht als Menschen, sondern als Silhouetten von berühmten Comicfiguren. Popeye und Olive sind zu erkennen, Wimpy, Charlie Brown und Happy Hooligan. In den USA wäre das, ein Jahr nach den größten Terroranschlägen in der Geschichte des Landes, nicht möglich gewesen. Für ihn aber, sagt Spiegelman heute, sei das auch ein Schritt der eigenen Traumabewältigung gewesen: „Und das musste ich mit dem machen, was ich konnte: zeichnen." Dichterlesungen und Musik konnten ihm weder Trost spenden noch einen Zugang zur Bewältigung der Ereignisse darstellen. Im Buch erzählt er, dass die einzige Kunst, die seine Abwehr überwinden konnte, die alten Comicstrips waren, weshalb auch verschiedene Charaktere aus Krazy Kat, den Katzenjammer Kids und anderen Strips vom Beginn des vergangen Jahrhunderts, Pionieren der Comics, in der Bildergeschichte auftauchen.


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Dienstag, 25. September 2012 | Text: Nora Koldehoff 



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