Am Anfang ist alles fast genau so wie am Schluss. Stumm und reglos stehen sie da auf der offenen, mit schwarzer Stofftapete ausgeschlagenen Bühne, all die Figuren aus Leo Tolstois grossem Roman "Anna Karenina": der notorische Schürzenjäger Oblonski und seine duldende Frau Dolly, der Weltverbesserer Lewin und die noch unbekümmerte Kitty, der heissblütige Graf Wronski und seine berechnende Mutter, die gesamte St. Petersburger Gesellschaft und die Moskauer noch dazu. Und natürlich die Karenins: Alexei, der prinzipientreue Staatsbeamte, seine schöne Frau Anna und das gemeinsame Söhnchen Serjoscha. Nur zwei Liebende werden am Ende der gut zweistündigen Aufführung fehlen.
Dazwischen rast die neue Choreografie des Zürcher Ballettdirektors Christian Spuck durch die 1200 Seiten starke Literaturvorlage wie ein Schnellzug. Anders als durch rigorose Straffung wäre dem umfangreichen Werk von 1878 allerdings auch nicht beizukommen gewesen an einem Abend. Die Frage war anlässlich der Uraufführung am Sonntagabend also nur, worauf sich Christian Spuck konzentrieren würde: auf Tolstois Frage nach Selbstverwirklichung oder Pflichterfüllung? Oder auf die Frage nach der Moral der Ehe, die im Roman am Beispiel dreier Beziehungsgeschichten behandelt wird?
Eine ganz neue KraftChristian Spuck entscheidet sich - wie schon in "Leonce und Lena", in "Romeo und Julia" oder zuletzt in seiner Adaption von Shakespeares Sonetten im Rahmen des Ballettabends "Notations" - für die Liebe. Doch diese wird bei Tolstoi zu einer Fahrt ins Verderben. Und so steht denn ein Zug - bei Tolstoi auch Sinnbild für die von ihm abgelehnte Industrialisierung und Moderne - am Anfang und am Ende der Geschichte. Dessen Rattern (Soundcollagen: Martin Donner) begleitet das Standbild zu Beginn der Aufführung, und die Geleise flimmern wenig später in einem Stummfilm über ein Leintuch im Bühnenhintergrund, während Anna erstmals mit Graf Wronski zusammentrifft. Eigentlich ist sie nach St. Petersburg gekommen, um die kriselnde Ehe ihres Bruders zu retten. Dieser, Oblonski, schäkert zu gerne mit den Dienstmädchen, und seine Frau Dolly denkt an Scheidung.
Christian Spuck schenkt diesem unglücklichen Paar einige der schönsten Duette des Abends. Arman Grigoryan sprüht nur so vor Charme, wenn er wieder und wieder seine Frau umgarnt - oder auch seine Hausangestellten. Und Galina Mihaylova gibt seiner dauerbetrogenen Frau Dolly einen wütenden Stolz und eine Kraft, die in Tolstois Vorlage fehlt. Wenn dieses Paar aufeinandertrifft, sprühen die Funken. Das ist zwar nicht unbedingt im Sinne des Autors, der Frauen zeitlebens kaum als Gleichberechtigte betrachtete. Aber es entspricht etwas mehr unserer Zeit.
Geometrische PerfektionDas zweite Beziehungsbeispiel, das der Roman uns bietet, sind Dollys Schwester Kitty (Katja Wünsche) und Tolstois Alter Ego Lewin (Tars Vandebeek). Während sie zu Beginn noch unbekümmert im blauen Kleidchen durchs Leben und über die Bühne flattert, flieht er vor ihrer Zurückweisung in ein einfaches Leben auf dem Lande. Wie revolutionär dieses Handeln zur Entstehungszeit des Buches war, verdeutlicht die Choreografie, indem sie Lewin und die Bauern modern tanzen lässt.
Fast glaubt man Anleihen beim Breakdance entdecken zu können, derweil das Geräusch der Sensen den Takt angibt. Doch diese Beschreibung einer letztlich aus Vernunft und Achtung geschlossenen Ehe bleibt ein blässlicher Nebenstrang angesichts der grossen Liebesgeschichte zwischen Wronski (Denis Vieira) und der verheirateten Anna Karenina (Viktorina Kapitonova). Bald erliegt Anna den Verführungskünsten des ungestümen Grafen und verlässt für ihn den Ehemann (souverän in seiner steifen Gockelhaftigkeit: Filipe Portugal) und ihren über alles geliebten Sohn.
Nach einer kurzen Zeit des gemeinsamen Glücks aber kehren die beiden Liebenden nach St. Petersburg zurück, wo Anna gesellschaftlich geächtet und bald von Eifersucht zerfressen wird. Vereinsamt, verunsichert und verwirrt wirft sie sich schliesslich vor einen Zug, Wronski zieht gebrochen in den Krieg und geht in den sicheren Tod. Am Ende ist alles wie am Anfang: Stumm und reglos stehen sie dann auf der Bühne, alle ausser Anna und Wronski. Und das Leben wird weitergehen, als sei nichts passiert.
So hat es Tolstoi beschrieben, der keiner seiner Frauenfiguren die Erfüllung in der Liebe erlaubte. Allerdings umgeht Christian Spuck mit seiner Reduktion auf die melodramatischen Aspekte die philosophischen Fragen, die Tolstoi ins Zentrum seines Romans gestellt hatte. So ist denn auch kaum ein Verweis auf die Gegenwart zu finden in dieser Aufführung, ausser in Lewins Bauerntänzen. Auch musikalisch hat sich Spuck auf das Naheliegende konzentriert, nämlich auf die Werke von Sergei Rachmaninow: Melodramatik, Melancholie und Moll. Nur wenn Unheil oder Wahnsinn droht, hört man auch dissonantere Töne, die der Choreograf vorwiegend in den Kompositionen von Witold Lutosławski gefunden hat (am Flügel: Josiane Marfurt, Sopran: Anna Stéphany). Die Musik vermittelt dann auch Gefühle, die man im Tanz zuweilen vermisst. Zwar sinken die Frauen ihren Ehemännern und Geliebten immer wieder hingebungsvoll in die Arme, doch ihre Gefühle weichen der geometrisch-technischen Perfektion, die tatsächlich den rigiden Regeln des zaristischen Russland entspricht.
Schönheit zählt mehrAber zu selten spürt man die Leidenschaft, die zwischen Anna und Wronski brennen sollte. Am ehesten im grossen Pas de trois vor der Pause, den Christian Spuck als feinfühliges Gespinst der Beziehungen zwischen Wronski, Karenin und der sterbenskranken Anna anlegt. Das passt zu seiner rein romantischen Interpretation dieses vielschichtigen Stücks Weltliteratur. Und es passt zu einem umjubelten Ballettabend, der alle Erwartungen eines Publikums erfüllt, das Ballett am liebsten aus der romantisch-historischen Perspektive betrachtet, in der Schönheit mehr zählt als der Blick aus der Gegenwart auf einen historischen Gesellschaftsroman.
Nächste Vorstellungen 17., 19. und 21. 10. (Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 13.10.2014, 18:58 Uhr)