Nina Scheu

Journalistin, Mediensprecherin, Zürich

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Low Budget

Kinder grossziehen mit wenig Geld in der reichen Schweiz (Februar 2009)

Etwa jedes zehnte Kleinkind unter fünf Jahren bezieht in der Schweiz über seine Eltern Sozialhilfe. Was bedeutet ein Leben in Armut für die Kinder? Und wie schafft man es, dass der Nachwuchs nicht unter der Ebbe im elterlichen Portemonnaie zu leiden hat?

Immer Mitte Monat gab der Postomat das kleine gelbe Kärtchen nicht mehr her. Aus, fertig, Konto überzogen, um mindestens tausend Franken. Kein gutes Gefühl. Vor allem auch, weil es jedesmal fünfzig Franken Busse kostete, um das Kärtchen wieder auszulösen, wenn dann wieder etwas Geld auf dem Konto lag. Spätestens Mitte Monat also wechselte der Speiseplan jeweils von Frischgemüse zu Büchsenmais und von Fleisch oder Käse zu Fischstäbchen und Bratwürsten. Wenn es sein muss, kommt man auch mit einem Tagesbudget von wenigen Franken gut durchs Leben.

Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre lebte ich als alleinerziehende Mutter an der sogenannten Armutsgrenze. Vielleicht auch etwas darunter. Dabei hatte ich es in vielerlei Hinsicht leichter als andere Frauen in meiner Situation. Freie Journalistinnen können zu Hause arbeiten und sie können sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen. Solange mein Kind wach war, hatte es meine Aufmerksamkeit. Erst wenn es schlief, setzte ich mich an den Computer und begann zu schreiben. Andere Mütter sind auf Betreuungsangebote angewiesen, wenn sie arbeiten wollen oder müssen, um die Miete, die Krankenkasse, Pampers, Kleider und Essen zu bezahlen.

Allein im Kanton Bern rechnete man aufgrund eines Berichts aus dem Steuerjahr 2006 mit 90000 Armen oder armutsgefährdeten Menschen. In der ganzen Schweiz lebten zur gleichen Zeit laut Statistik rund 380000 Personen zwischen 20 und 59 Jahren in einem "armen Haushalt". Und von den Alleinerziehenden bezog jede(r) vierte Sozialhilfe. Auch heute gilt jedes fünfte Kind im Alter unter 15 Jahren - also 20 Prozent der Heranwachsenden in der Schweiz - als armutsgefährdet; besonders wenn es keinen Schweizer Pass besitzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Zahlen in den kommenden Monaten deutlich ansteigen, ist angesichts der bereits einsetzenden Rezession sehr gross.

Arm sein heisst in der Schweiz: nicht haben können, was für die anderen selbstverständlich ist. Ferien, einen Fernseher oder auch einfach fabrikneue Kleider. In extreme, lebensbedrohliche Situationen kann höchstens gelangen, wer aus dem sozialen Netz gefallen ist, dessen Löcher allerdings auch in unserem reichen Land immer grösser werden. Gemäss den Schweizer Hilfswerken lag die offizielle Armutsgrenze im Jahr 2005 bei 2200 Franken Monatseinkommen für einen Einpersonenhaushalt und bei 4600 Franken für eine Familie mit zwei Kindern. Wer von diesem Einkommen Miete, Krankenkasse, Versicherungen, Tram oder gar Zug und womöglich noch eine Ausbildung bezahlen muss, dreht jeden Rappen zweimal um. Doch was bedeutet das für die Kinder?

Meine Tochter jedenfalls freute sich immer, wenn es Fischstäbli mit Büchsenmais zu essen gab. Und sie spielte stundenlang mit den Muscheln, die ihre Grosseltern in früheren Jahren gesammelt hatten. Oder mit Steinen, Zweigen, Blättern. Die pädagogisch wertvolle, aber unerschwingliche Brio-Bahn wurde uns von Bekannten mit grösseren Kindern ausgeliehen, und sogar die pädagogisch absolut nicht wertvolle Barbie fand ihren Weg ins Kinderzimmer, als im Kindergarten der Statuswettkampf ausbrach. Ich fand sie in einer Spielzeugbörse, noch eingepackt, als sei sie neu. Überhaupt wurden Secondhandläden und Brockenhäuser in jener Zeit zu unserem Tummelfeld. Es waren abenteuerliche Reisen durch die Errungenschaften der Konsumwelt. Wie absurd erschien mir vieles, was es auch an diesen Orten zu kaufen gab. Und hin und wieder fanden sich tatsächlich der topmodische Skianzug, das Prinzessinnenbett und sogar die schönen weissen Lederschlittschuhe, von denen meine Tochter immer geträumt hatte. Gelitten unter der Ebbe in meinem Portemonnaie hat sie damals wohl kaum. Viel eher machte ihr meine Stimmung zu schaffen, wenn der Postomat mal wieder mein Kärtchen gefressen hatte und ich im Selbstmitleid ertrank. So banal es klingen mag: Der wahre Luxus, den wir Kindern schenken können, ist unsere Zeit - und eine positive Lebenseinstellung.

Bewusst wurde mir das erst viel später, als mein Kind schon zwölf oder dreizehn Jahre alt war und ich mit dem Platzen der Internetblase eine meiner besten Stellen verlor. Damals schenkte mir meine Tochter ihr Sparschwein zu Weihnachten. Dabei ging es uns finanziell schon einiges besser. Doch mein Entsetzen über den Verlust eines vermeintlich sicheren Arbeitsplatzes färbte viel stärker auf unser Familienleben ab, als es die tatsächliche Geldnot fünf oder zehn Jahre zuvor getan hatte. Prompt hatte auch ich das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn ich mein Kind nicht statusgemäss mit Gameboy, Hello-Kitty-Pullover und eigenem Handy ausstatten konnte. Wer die mittlerweile Zwanzigjährige heute nach ihren Erfahrungen von damals fragt, erfährt dennoch hauptsächlich Positives. In gewisser Weise sei sie auch stolz darauf gewesen, dass solche Dinge bei uns zuhause nicht bedenkenlos zusammengeramscht wurden - selbst wenn sie natürlich nicht frei von Neid war, wenn die Klassenkameradinnen von ihren Ferienerlebnissen erzählten. Wir fuhren weder nach Hawaii noch auf die Malediven, stattdessen besuchte mein Kind fast sämtliche Ferienkurse, die das Schul- und Sportamt anzubieten hatte - damit ich in dieser Zeit arbeiten und etwas verdienen konnte. Sie lernte Fechten, Judo, Windsurfen und Tanzen, sie spielte Theater, fuhr Rhönrad und bastelte Marionetten. Wer könnte da behaupten, sie habe sich gelangweilt? Problematisch wird ein Leben ohne Geld erst, wenn auch die Anregungen fehlen. Wenn die Betroffenen sich zuhause einigeln und den Kontakt zur besser verdienenden, "normalen" Umwelt verlieren. Nicht zuletzt aus falscher Scham verzichten viele Betroffene in finanziellen Engpässen auf die meist durchaus vorhandenen Angebote der öffentlichen Hand, sich beispielsweise in Beschäftigungsprogrammen oder Kursen (gerade auch für die Kinder) nicht nur Ablenkung und frischen Wind um die Nase zu verschaffen, sondern tatsächlich auch eine bessere Ausgangsposition in Schule, Berufsleben und Gesellschaft.

Gemäss den Erhebungen des Bundesamts für Statistik leben 8,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung und 12 Prozent der Kinder im Lande unter der Armutsgrenze. Von Armut betroffen sind denn auch in erster Linie kinderreiche Familien und alleinerziehende Elternteile, Arbeitslose, selbständig Erwerbende sowie schlecht ausgebildete oder ältere Menschen. Die regionalen Unterschiede sind ebenfalls gross: Im italienischsprachigen Kanton Tessin beispielsweise gibt es doppelt so viele Familien mit kleinem Einkommen wie im Kanton Zürich. Trotzdem ist die Zahl der Sozialhilfebezüger in der Schweizer Sonnenstube deutlich tiefer als in der Bankenstadt Zürich. Der Anteil der unterstützten Personen in urbanen Regionen liegt mit 5 Prozent allgemein recht hoch, während er in ländlichen Gebieten nur 1,4 Prozent beträgt. Das liegt einerseits an den teureren Lebenshaltungskosten, andererseits auch daran, dass in der Stadt der Anteil der sogenannten Working Poor deutlich höher ist als auf dem Land. Gemäss den Erhebungen des Bundesamtes für Statistik BFS gehörten 2005 in der Altersgruppe 20 bis 59 Jahre 4,2 Prozent zur Gruppe jener Menschen, die zwar eine Stelle haben, aber trotzdem unter der Armutsgrenze leben. Um aus der Misere herauszufinden, müssten sie eine andere, besser bezahlte Arbeitsstelle finden. Angesichts der beginnenden Wirtschaftskrise sehen die Chancen für diesen Teil der Bevölkerung derzeit aber alles andere als rosig aus.

Umso wichtiger wird es, wenigstens den Kindern keine Chancen zu verbauen - indem man ihnen seine Aufmerksamkeit schenkt und die Möglichkeit, sich ihren Fähigkeiten gemäss zu entwickeln. Das fängt beim gemeinsamen Spielen an und hört bei den Hausaufgaben noch lange nicht auf. Kinder brauchen Anregungen aller Art, und die sind auf dem Spielplatz, in der Spielgruppe, der Krippe oder bei Freunden und manchmal auch im Kursprogramm der Freizeitanlagen zu finden. All das kostet kaum Geld, sondern Zeit und Zuwendung, unser teuerstes Gut. Und sogar wenn ein gewecktes Talent zusätzliche Nahrung fordert, finden sich in der Schweiz zahlreiche Stiftungen und Institutionen, die bereit sind, ihr Scherflein zu seiner Förderung beizutragen. Auch das allerdings fordert von den Eltern Zeit. Zeit, sich über mögliche Angebote zu informieren. Zeit aber auch, um Antragsformulare auszufüllen und die geforderten Unterlagen bereitzustellen.

Neben Zeit fordert ein Alltag mit Kindern ohne viel Geld von den Betroffenen vor allem eines: viel Kraft. Die grösste Herausforderung für Eltern ist es, ihren Kindern ein von Geldsorgen unbeschwertes Heranwachsen zu ermöglichen. Das bedeutet nicht zuletzt, dass sie einfach nie den Mut verlieren dürfen. Denn Kinder leiden erst dann, wenn es ihren Eltern auch psychisch schlecht geht. Wenn die Sorge, wie man den nächsten Monat überstehen soll, den Alltag so überschattet, dass keine Kraft mehr bleibt, die Kleinen zu trösten, wenn sie einmal auf die Nase fallen. Am leichtesten lässt sich diese Kraft bei den Kindern selbst schöpfen. Bei ihrem Lachen, wenn sie glücklich sind, bei ihrem Stolz, wenn sie eine Aufgabe bewältigt haben, und bei ihrer Liebe, mit der sie ihren Eltern die Mühen, die sie kosten, tausendfach zurückgeben. Daran sollte man sich immer halten, gerade dann, wenn wieder einmal alles aussichtslos erscheint.

Wenn ich heute zurückblicke und überlege, was die mageren Zeiten für die Entwicklung meiner Tochter bedeutet haben, so ist es wahrscheinlich vor allem dieses "Kopf hoch", das ihre Kindheit und Jugend geprägt hat. Neben tanzen, fechten und Rhönrad fahren hat sie gelernt, dass es im Leben auch immer wieder aufwärtsgeht, solange man den Mut nicht verliert. Ich glaube, das ist nicht das Schlechteste, was ich ihr beibringen konnte.

Nützliche Infos und Spartipps auf der folgenden Seite

Kinder lieben Kinder - eine Sirupparty kostet nichts.

Kleine Mutproben - spielen wo's geht.

Zusammen im Schnee - ein sicheres Erlebnis.

KLEINE SPARTIPPS FÜR DEN ALLTAG

Es müssen nicht immer teure Boutiquen oder die grossen Warenhäuser sein. Auch Migros, Coop und Volg haben schöne und qualitativ hochstehende Kleider. Überraschendes findet man immer wieder in den Secondhandläden, Kleiderbörsen und Brockenhäusern, von denen man unzählige entdeckt, sobald man etwas genauer hinschaut. Gerade Kinderkleider, die meist sehr schnell zu klein sind, findet man da zu extrem günstigen Preisen. Auch Spielzeug, Musikinstrumente, Sportausrüstungen und Möbel lassen sich so billig finden.

Wer beim Essen sparen muss, wartet am besten bis nach 16 Uhr mit dem Einkaufen. Dann werden die Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abläuft, vielerorts stark vergünstigt angeboten. Wasser ist übrigens in allen Schweizer Haushalten trinkbar, gratis und unschädlich für die Zähne. Wer's nicht "nature" mag, kann auch Tee kühlstellen.

Sogar Ferien müssen dank der Reisekasse Reka (ja, die mit den Checks) nicht unerschwinglich sein. Angebote gibts in eigenen Feriendörfern im Inland und manchmal sogar im Ausland: www.reka.ch.

Apropos Ferien: Die Familienkarte der SBB ist auch in den meisten Trams und Bussen der Schweiz gültig und ganz bestimmt billiger als ein Jahresabonnement. Das bedingt allerdings, dass mindestens ein Elternteil das Kind jeweils begleitet.

Ausserdem gibt es für fast alles in der Schweiz Stiftungen. Vor der Wohnungssuche oder falls man Unterstützung für die Förderung schlummernder Talente sucht, empfiehlt sich ein Blick ins elektronische Stiftungsverzeichnis: http://www.edi.admin.ch/esv/00475/00698/index.html?lang=de.

WAS KINDER KOSTEN

Übersicht über die Empfehlungen zur Bemessung von Unterhaltsbeiträgen für Kinder des Amtes für Jugend und Berufsberatung des Kantons Zürich vom 1. Januar 2008

1.- 6. Altersjahr

Ernährung 310.-

Bekleidung 85.-

Unterkunft 365.-

Weitere Kosten 535.-

Pflege und Erziehung 715.-

Total Bedarf 2010.-

7.-12. Altersjahr

Ernährung 325.-

Bekleidung 115.-

Unterkunft 365.-

Weitere Kosten 650.-

Pflege und Erziehung 455.-

Total Bedarf 1910.-

13.-18. Altersjahr

Ernährung 420.-

Bekleidung 140.-

Unterkunft 335.-

Weitere Kosten 865.-

Pflege und Erziehung 325.-

Total Bedarf 2085.-

Der durchschnittliche Unterhaltsbedarf für Kinder variiert je nach Alter und Geschwisterzahl. So beläuft sich der Bedarf für ein 13-jähriges Einzelkind laut dieser Berechnung auf 1910 Franken pro Monat. Hat es hingegen ein Geschwister, so sind es 1675, bei zwei Geschwistern 1490 Franken.

Zum Original