Normalerweise sind Telefoninterviews oft eine komische Sache. Man lernt sich nicht so wirklich kennen, missversteht sich gegenseitig auch gerne mal und zu häufig kommt dabei eher ein müdes Frage-Antwort-Spiel als ein wirkliches Gespräch heraus. Als ich Anfang der Woche grim104 am Telefon hatte, war das allerdings anders. Das liegt wahrscheinlich größtenteils an seiner Art, sehr viel zu reden, aber dennoch auch Gegenfragen zu stellen um dann auch mal interessiert abzuschweifen. Aber eben auch daran, dass der selbsternannte Graf Zeit seines Lebens unter Normalsterblichen selbst einmal als Praktikant der Redaktion in den manchmal unangenehmen Genuss kam solche Interviews zu führen. Deshalb starten wir auch, nach einer kurzen Unterbrechung zum Zwecke der Nahrungsaufnahme, heute mal ein simples Sandwich anstatt dem Blut eines Jüngling, ohne unangenehme Pausen.
Das wichtigste Thema im Bezug auf die neue Platte ist natürlich der konzeptionelle Gesamtkontext, in den sie eingebettet ist: Horror. Dass damit nicht der splattermäßige Horror im Sinne diverser Filmen-Reihen mit unendlichen Fortsetzungen oder dem klassischen Horrorcore-Rap von Blockmonsta und co. gemeint ist, wird bereits beim titelgebendem Intro „ Das Grauen" klar. Vielmehr geht es um echten Horror, um reale Ängste des Lebens, mit denen sich auch die Person hinter dem Moniker grim104 auseinandersetzt. Das reicht von imaginiertem Hypochondertum und medial überstilisierten Gewaltszenarien, bis hin zu den Gruselgeschichten, die einem jeden Tag auf der Straße in Form von Drogen oder Obdachlosigkeit begegnen.
Es geht also, um es in den Filmreferenzen von Graf Grim selbst zu verpacken, um Titel wie „ Us" von Jordan Peele oder das für den Song „ This is great evil" gesamplete Kriegsdrama „ Der schmale Grat". „Das sind Sachen, die nicht nur einfach eine Horror-Geschichte erzählen, sondern eben über Metaphern erzählen und auch ganz neue Gedankengänge aufmachen können. Das ist ja beispielsweise bei alten Zombie Filmen aus den 70ern so, die eigentlich vom Vietnam Krieg erzählen." In dieser Art zu erzählen zieht grim auch parallelen zu seiner ersten EP.
Worüber wir jedoch zuerst Reden ist der Pressetext zur EP. Eigentlich ein Thema, das man in Interviews doch lieber umschifft. In diesem Fall jedoch hat grim den Pressetext einfach selbst geschrieben. Und das auch schon bevor die Platte überhaupt fertig war. „Das war ein eigenes Runterschreiben der Intention, die ich mit der Platte hatte. Und dann hab ich gemerkt, dass das auch ein schlüssiger Pressetext ist. Das hat mir auch geholfen in Form zu gießen, wo ich am Ende hin möchte."
Das geschriebene Wort an sich scheint Graf Grim sowieso wichtig zu sein. Und dabei geht es nicht nur um Songtexte. Lyrik, Bücher, Wissenschaft, Fiktion sind gängige Versatzstücke auch im ZM-Œuvre. Film und Popkultur ja sowieso. Auch auf die Frage woher seine offensichtliche Faszination für das Morbide herkommt, antwortet grim mit verschiedenen Büchern und Geschichten, die er als Kind gelesen hat: „Ich versuche das gerade zu ergründen, ob es da einen direkten Ursprung gibt, in den Büchern, die mir vorgelegt worden sind und die ich dann später auch selbst gelesen hab. Dazu habe ich eine blühende Phantasie gehabt, die mich dann eher an die dunklen Orte gezogen hat."
Man hört die Faszination für Text diesmal jedoch mehr denn je auch seiner Art zu Schreiben und zu Rappen an. An einigen Stellen werden Dinge und Handlungen personifiziert, wie es im Journalismus oder in der Lyrik gang und gebe ist. An anderen Stellen lässt Graf Grim einfach das Rappen ganz weg, spricht einen Monolog oder sagt ein Gedicht inklusive atmosphärischer Stimmen-Shiftings auf. Was nicht in Rap-Form passt muss auch nicht mehr in Rap-Form gedrückt werden.
Als wir thematisch noch mal einen Schritt zurück gehen, um über Konzept-Alben im Allgemeinen zu sprechen, muss sich grim erst einmal eingestehen, dass er Konzepte für Musik früher häufig ziemlich dumm fand. Der ein oder andere Rapper musste sich dafür auch schonmal eine nicht so nett gemeinte Line von ihm anhören. Nun steht er selbst mit dem Konzeptalbum da. Und zwei weiteren Ideen, die er mal eben so in den virtuellen Raum schmiss. Allerdings funktioniert das auch nicht auf so einer simplen Idee wie „Hey es wäre doch geil mal einen Song zu machen aus der Perspektive eines Turnschuh." Lediglich die erste Single "Der Graf" driftet ein wenig in dieses stumpfe Konzept-Song-Prinzip ab.
Für den Rest ging es vielmehr darum einen neuen Kniff zu finden auf gesellschaftliches Treiben zu blicken. Sich selbst zu abstrahieren um auf Geschichten aufmerksam zu machen, die der Alltag ansonsten verschluckt oder in der Fiktion ein drunterliegendes gesellschaftliches Thema zu behandeln. Am Ende wird daraus ein Gemisch aus Realität und Fiktion, aus Überzeichnung und bitterer Wirklichkeit. „Hyperrealität" nennt Staiger das. Dennoch tritt der Grafauch mal aus seiner selbsterschaffenen Allmachts-Pose heraus, was den kritischen Momenten des Albums gut tut. Auf „Hölle" wird der Protagonist selbst zum Problem. „Ich häng am Bösen Ast als ein Zugezogener der Zugezogene hasst" heißt es dort im C-Part.
Eine persönliche Ebene findet sich tatsächlich auf fast allen Songs, wenn man genauer hinschaut. Natürlich findet sich auch rein Fiktionales. „Du kannst nicht in jedem Song in deinem tiefsten Ich rumwühlen. Einmal weil das ungesund ist und auch weil das Leben das nicht immer hergibt," erklärt grim. Recht offensichtliche Beispiele für gegenwartskritische Songs sind „ Juri Gargarin" und „ Geist". Allerdings lässt sich hier, auch wenn die ZM-Hälfte selbst im Gespräch die Intention erstmal verneint, auch der aufgrund der sehr fesselnd gesungenen Hook beste Song der EP „ Unter der Stadt " einordnen.
Die Inspiration hinter dem Song ist ein realer Moment. „Ich bin U-Bahn gefahren, auf einmal ruckartiges Bremsen. Licht geht an, Licht geht aus. Wir fahren in den Bahnhof und da rennen Leute vorne zur Lok. Ich denke mir nur so was ist denn jetzt passiert? Da hat sich halt wer vor den Zug geschmissen." Ein Paradebeispiel für eine Horrorgeschichte aus dem echten Leben. Mit der Inspiration von Christopher Nolans „ The Dark Knight Rises ", in dem sich eine geheime Armee aus gesellschaftlich Verstoßenen in der Kanalisation versammelt, und einigen Videos von alten Nazi-Bunkern unter Berlins U-Bahn-Netz, wurde daraus eine ansehnliche Verschwörungstheorie. In Amerika genießen Geschichten über sogenannte Mole-People oder eben Tunnelmenschen in beziehungsweise unter New York oder Las Vegas Kultstatus.
Wenn man sich nun noch die offensichtlich übertriebene Vehemenz anschaut, mit der Graf Grim in Interviews auf die Realität dieser Verschwörung beharrt, bleibt man dabei erstmal sprachlos zurück. Man braucht allerdings nicht allzu lang, um darauf zu kommen, dass hier vielleicht auch einfach der aktuelle Verschwörungstheorie-Hype im Deutschrap-Zirkus konterkariert wird. Dabei ist eine solche Ebene eine durchaus angenehme Art der Kritik gegenüber herkömmlichen Szene-Disstracks. Diese trauen sich meiste weder konkrete Namen zu nennen, noch besitzen sie durch das stumpfe Schreien in die eigene Filterblase irgendeine Relevanz und torpedieren meist lediglich die ansonsten sehr dichte Atmosphäre eines Albums.
Schließlich lässt sich mit einem schmunzeln noch die Frage anfügen, ob Blvth nun den offiziellen Sound für dystopische Verschwörungstheorien gepachtet hat. Denn nachdem er auf Caspers „ Lang lebe der Tod" bereits die Verschwörer-Hymne „ Morgellon" produziert hat, stammt auch die Kulisse von „ Unter der Stadt" aus dessen Feder. Den Rest der EP haben übrigens klassischerweise Kenji451, der für das Instrumental von „Ratten im Gemäuer" verantwortlich ist, und federführend ZM-Hausproduzent Silkersoft gebastelt.
Grob lässt sich „ Das Grauen, Das Grauen" in drei Teile dritteln. Die ersten drei Songs sind harte, klassische Rap-Songs. Dann folgt ein Mittelteil aus Interlude, Todes-Imaginations-Monolog und der skizzenhaften Auseinandersetzung mit der eigenen Spießigkeit namens „ Ratten im Gemäuer ". Dieser Teil ist soundmäßig stark reduziert und spielt am deutlichsten mit der Erzählform. Zum Schluss gehen die Songs zurück in eine klarere Rap-Richtung, bleiben aber avantgardistischer als im ersten Drittel.
Anders als die beiden Zugezogen Maskulin Alben und auch seine selbstbetitelte EP, die über das legendäre Label Buback Tonträger released wurden, hat sich der Graf für die neue Platte auf Selbstständigkeit reduziert: „Ich wollte ausprobieren, wie man das selber macht. Grade für so kleinere Projekte ist glaube ich kein Label mehr nötig. Es ist dann natürlich auch viel mehr Arbeit, aber ich hatte in dem Moment einfach das Bedürfnis dazu." Somit losgelöst von etwaigen Label-Zwängen und Konventionen hat man sich darauf besinnt die Promophase angenehm kurz zu halten, lediglich ein Video zu drehen und zwei weitere Songs auf sehr clevere Weise zu präsentieren.
Einen Teaser zu „ Hölle" kann man sich gemeinsam mit dem Inserat eines „g emütlichen Startup-Studio im Herzen der Stadt" auf dem eigenen Wohnungsportal Grimmobilienscout104 zu Gemüte führen. Eine Fledermaus im html-code gibt es inklusive. So funktioniert die Generation Internet. Für den Song "Geist" musste man dagegen zum Fast vergessenen Telefonhörer greifen. Die Nummer endet natürlich auf 104. Zur Belohnung durfte man dann aber auch eine Nachricht an Graf Grim persönlich hinterlassen.
„Es sind über 2.000 Anrufe eingegangen, da kommen auch immer noch täglich 20 bis 30 rein. Das hätte ich niemals gedacht." Natürlich will ich noch vom Grafen wissen, welche Voice-Mail die Beste war: „Wenn man stirbt und ein Geist wird, behält man dann die Klamotten an, die man anhatte zur Zeit des Todes? Viele Menschen sterben ja auch gewaltsam, bleibst du dann so verstümmelt?"