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Super-Mücken gegen Dengue

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Infektionskrankheiten Wie in Brasilien gezüchtete Supermücken das Denguefieber bekämpfen sollen

Dengueviren werden durch Moskitos übertragen und breiten sich in vielen Ländern rapide aus. In Brasilien helfen inzwischen Soldaten, um eine Epidemie einzudämmen. Nun soll ausgerechnet eine Mücke aus dem Labor das Problem lösen.

Aus Rio de Janeiro berichtet Niklas Franzen

Deir Silva kurbelt das Fenster der Rückbank herunter. Er streckt eine längliche Plastikdose aus dem fahrenden Auto, zieht behutsam den Deckel ab. Dann schüttelt er die Dose. Aus dem Behälter schwirren Mücken in den Himmel von Niterói, Zwillingsstadt von Rio de Janeiro. "Fliegt und macht euren Job!", sagt Silva. Nach rund 50 Metern hält er die nächste Dose aus dem Fenster.

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Silva, 57, rundliche Statur, blaue Plastikhandschuhe, arbeitet beim World Mosquito Program, einer in Australien gegründeten Organisation. Bei den freigelassenen Mücken handelt es sich um Aedes aegypti, ägyptische Tigermücken. Sie könnten helfen, eines der größten Gesundheitsprobleme der Gegenwart in den Griff zu bekommen. Auf den ersten Blick mag das absurd klingen. Denn eigentlich sind die Aedes aegypti das Problem, nicht die Lösung.

Die gestrichelte Mückenart überträgt tropische Krankheiten wie Zika, Chikungunya und Dengue. Das Fieber ist die sich am schnellsten verbreitende Viruserkrankung. Heute gibt es jährlich achtmal so viele Ansteckungen wie noch vor 20 Jahren. Unlängst schlug die Weltgesundheitsorganisation Alarm: Die Hälfte der Weltbevölkerung ist dem Risiko einer Infektion ausgesetzt. Selbst Frankreich und die USA meldeten Fälle der Tropenkrankheit, die den Beinamen Knochenbrecherfieber trägt.

Doch vor einigen Jahren machten Forschende in Australien eine bahnbrechende Entdeckung. Sie infizierten Mückeneier mit einem natürlich vorkommenden Bakterium namens Wolbachia. "Zu unserer Überraschung konnten wir nachweisen, dass Wolbachia die Viren von Dengue und anderen Krankheiten blockiert", erzählt Luciano Moreira im Videogespräch. Bei den befallenen Mücken war es für diese schwieriger, sich im Wirt zu vermehren. Das heißt: Es sank die Wahrscheinlichkeit, dass die Mücken Viren auf den Menschen übertragen. Schnell fanden sie einen Namen für die mit Wolbachia infizierten Mücken: Wolbitos.

Der Brasilianer Moreira gehörte damals zum Forscherteam. 2010 kehrte er nach Brasilien zurück. Ein Jahr später kamen die Mückeneier aus Australien nach. Mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums begannen er und seine Kollegen beim staatlichen Forschungsinstitut Fundação Oswaldo Cruz, kurz Fiocruz, eigene Wolbitos zu züchten. Es gab die ersten Modellversuche. In sechs Gemeinden wurden bisher Mücken freigelassen, doch nur in einer Stadt kam die Wolbachia-Methode im ganzen Gebiet zum Einsatz: Niterói.

Die Stadt hat etwas mehr als 500.000 Einwohner, liegt gegenüber von Rio de Janeiro auf der anderen Seite der Guanabara-Bucht. Im Osten Niteróis schlängelt sich eine enge Straße den Hügel hinauf, zum Morro da Atalaia. Am Fuße der Favela steht ein flacher Funktionsbau, es ist eine Gesundheitsstation. Im Inneren wuselt Raissa de Souza Vieira, 25, Zahnspange, Zöpfchen, umher. Sie ist in der Favela aufgewachsen. Das ist wichtig für ihren Job, denn sie ist eine Community-Arbeiterin, vermittelt zwischen Gesundheitsstation und Bevölkerung.

2022 trat das World Mosquito Program an die Station heran. Es gebe ein Projekt, erzählten sie, es gehe darum, Mücken auszusetzen. Bevor das passiere, brauche es jedoch die Einwilligung der Bewohner. Favelas sind eigene Welten, mit eigenen Gesetzen. Einfach so vorbeikommen und Mücken freilassen? Unmöglich. Hier kam Vieira ins Spiel.

Am Anfang, erzählt sie, seien viele Bewohner skeptisch gewesen. Hier gebe es doch schon genug Mücken, bekam sie zu hören. Vieira antwortete: Diese Mücken seien anders, sie würden helfen, Krankheiten zu bekämpfen. Zusammen mit ihren Kolleginnen ging sie von Haus zu Haus, verteilte Flyer, hing Poster auf. Nicht alle waren begeistert. Denn plötzlich flogen viel mehr Mücken durch die Gassen der Favela. "Langsam verstanden die Bewohner aber den Nutzen der Initiative", sagt Vieira. Heute lässt sich der Erfolg auch in Zahlen festhalten.

Eine wissenschaftliche Studie zeigt, dass in Niterói die Dengue-Fälle um 70 Prozent reduziert werden konnten, die Fälle von Chikungunya immerhin um 50 Prozent. Derzeit vermeldet Niterói viermal weniger Dengue-Fälle als die Nachbarstadt Rio de Janeiro. "Es hat funktioniert", meint Vieira. "Ohne das Programm hätten wir jetzt die gleichen Probleme wie andere Städte." Niterói gilt als Leuchtturmprojekt, es hat landesweit Interesse geweckt. Bald sollen in sieben weiteren Städten die Supermücken schwirren. Eine Frau soll helfen, dass das passiert.

In einem stickigen, dunklen Raum geht Cátia Cabral zu einem Rollwagen. Darauf stapeln sich mehrere Tabletts, sie sind mit Wasser gefüllt. Darin wimmelt es von schwarzen Pünktchen. "Alles beginnt mit dem Ei", sagt Cabral, 46, blond gefärbte Haare. Sie ist Leiterin der Biofabrik in Rio de Janeiro. Hier produzieren sie zehn Millionen Mückeneier pro Woche. Die Fabrik liegt auf dem Gelände des Forschungsinstituts Fiocruz im Norden der Stadt.

Cabral zieht ein weiteres Tablett heraus, mustert es genau. Darin zuckeln und kringeln sich Tausende winzige Geschöpfe. "Das sind Larven, sie brauchen noch eine Weile." In dem Raum ist es brütend heiß. "Die Aedes ist eine tropische Mücke", erklärt Cabral. Deshalb diese Temperaturen. Es riecht wie in einem Tiergeschäft. Wenn aus den Eiern die Larven schlüpfen, werden sie mit Fischfutter gefüttert. Nach rund einer Woche verpuppen sich die Larven.

Für die Puppen geht es weiter in einen fensterlosen Raum, den Cabral "Kinderkrippe" nennt. Zahlreiche weiße Boxen mit Netzwänden stehen hier, darin schwirren Hunderttausende Mücken. In den käfigartigen Behältnissen stehen kleine Wassertöpfe mit Papierstreifen am Rand. Dort sollen die Mücken ihre Eier ablegen. Auf dem Kopf der Boxen liegen Blutlappen, denn weibliche Aedes Aegypti brauchen Blut, um Eier zu bilden. "Menschliches Blut mögen sie am liebsten", sagt Cabral. Woher es komme? Spenden von Blutbanken, Reste aus dem Krankenhaus. Zu Not tue es auch Tierblut.

Cabral fing hier als Laborantin an, heute ist sie Chefin der Fabrik. Sie sei stolz darauf, hier zu arbeiten. "Wir tun etwas Gutes für die Gesellschaft." Sie betont: Das Ziel bestehe nicht darin, Mücken aus der Umwelt zu eliminieren. Mückenpopulationen, die Viren in sich tragen, sollen ersetzt werden - durch solche, die dank Wolbachia dazu nicht mehr oder in geringerem Maße in der Lage sind. "Mückenersatzstrategie" nennen sie das.

Brasilien hat große Pläne. Im kommenden Jahr wird eine neue Biofabrik eröffnet, die größte der Welt. 100 Millionen Eier pro Woche, das ist das Ziel. 70 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer sollen in den kommenden zehn Jahren durch die Wolbachia-Methode geschützt werden.

Allerdings gibt es auch Kritik, einige Forschende glauben, das Virus werde früher oder später einen Weg finden, den Wolbachia-Effekt zu überwinden. Moreira möchte das nicht ausschließen. Allerdings zeigten viele Studien die Widerstandskraft des Bakteriums. Und die Methode sei sehr nachhaltig. "In einigen Gebieten haben wir vor neun Jahren Mücken freigelassen und 90 Prozent der Population sind immer noch Wolbitos."

Logistisch ist die Freilassung der Mücken eine Herausforderung, gerade in Rio de Janeiro gab es Probleme. In vielen Favelas stehen bis an die Zähne bewaffnete Dealer an den Straßenecken, regelmäßig gibt es Gefechte mit der Polizei. Wochenlang konnten Mitarbeitende des Programms die Viertel nicht betreten. Dabei infizieren sich Menschen in dicht besiedelten Gebieten besonders häufig: Die Aedes aegypti wird nicht mit dem Virus geboren. Wenn Moskitos das Blut einer erkrankten Person saugen, vermehrt sich das Virus in ihren Körpern und überträgt sich mit einem Stich auf den nächsten Menschen. So kann die Krankheit schnell außer Kontrolle geraten.

Vor 1970 wurde Dengue nur aus sieben Ländern gemeldet. Die Ursache für die rasche Ausbreitung hängt für die meisten Wissenschaftlerinnen auch mit dem Klimawandel zusammen: Mücken mögen es heiß und feucht. In Ländern wie Brasilien fühlen sie sich deshalb besonders wohl. In diesem Jahr ächzt das Land aufgrund eines El Niños, eines natürlichen Klimaphänomens, noch zusätzlich unter Rekordtemperaturen. Mehr als 1,3 Millionen Dengue-Fälle wurden seit Anfang des Jahres gemeldet - viermal so viele wie im gleichen Zeitraum des Jahres 2023. Viele Bundesstaaten haben den Notstand ausgerufen. Soldaten wurden eingesetzt, um die Brutstätten der Mücke aufzuspüren.

Außerdem startete Brasilien eine Impfkampagne, vorerst prioritär für Kinder und Jugendliche. Gespritzt wird der Impfstoff Qdenga, entwickelt vom japanischen Arzneimittelhersteller Takeda. Brasilien hat eine lange Impftradition, zudem ein gut funktionierendes öffentliches Gesundheitssystem. Doch den aktuellen Ausbruch wird man kaum bremsen können. Deshalb braucht es Menschen wie Vieira.

Sie stapft eine steile Straße ihrer Favela herauf. Motorräder knattern vorbei, ältere Männer sitzen vor gekachelten Bars. Typische Favela-Szenen. 6000 Menschen leben hier - und Vieira scheint fast alle persönlich zu kennen. "Oi, meu amor", grüßt sie eine Frau im Vorbeigehen, "Hallo, meine Liebe". Sie bleibt vor einer knietiefen Pfütze stehen, holt ihr Handy heraus und macht ein Foto: "Ein perfektes Nest." Stechmücken legen ihre Eier bevorzugt in stehende Gewässer. Sie werde die Stelle der Stadtverwaltung melden.

Vor einem schweren Metalltor bleibt Vieira stehen: "Hallo, ist jemand zu Hause?" Ein braun gebrannter Mann öffnet. Bertoldo Pereira Monteiro, 72, trägt sportliche Kleidung und Flip-Flops. Ja, sagt er, Dengue mache ihm Sorgen. Er hebt einen Pflanzenkübel hoch. "Ich habe Sand in alle Untersetzer gekippt, damit sich dort kein Wasser sammelt", erklärt er. "Vorbildlich", sagt Vieira. Viele der Bewohner ihrer Favela nähmen die Krankheit ernst, deshalb glaubt sie: Sie werden Dengue besiegen.

Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft

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