Ich habe Bob Marley gesehen. Zwei Dutzend Chinesen und Koreaner sind meine Zeugen. Er lebt in Neuseeland. Seine Mähne ist so prächtig, dass die Augen kaum zu erkennen sind. Seine Auftritte aber sind eine Enttäuschung. Kein "No Woman No Cry", kein "I Shot the Sheriff". Eine Stunde gibt er keinen Ton von sich, und zwischendurch nickt er sogar ein. Nur mit einem Blöken schleicht er am Ende von der Bühne. Wie die anderen Schafe.
Bob Marley ist nämlich ein Schaf. Genau genommen ein Widder der Lincoln-Gattung.
Zusammen mit über einem Dutzend anderer Zuchtschafe steht er dreimal täglich in der Nähe der Stadt Rotorua auf der Bühne. Dort befindet sich der Agrodome, eine Art Bauernhof für Touristen, auf dem es mehr Tourbusse als Traktoren gibt. Seine größte Attraktion ist die Sheep Show, eine Erfindung, wie sie nur ein Land haben kann, dessen Nationalsymbol ein Vogel ist, der nicht fliegen kann.
Ein Rückblick auf das Jahr 1970 führt zu den Wurzeln des Agrodomes: Neuseeland sucht nach einem geeigneten Thema, um sich auf der Weltausstellung im japanischen Osaka zu präsentieren. Schon damals leben deutlich mehr Schafe als Menschen in dem ehemals von der englischen Krone regierten Land. Da liegt es auf der Hand: Schafe müssen her. Und ein geeigneter Schafsscherer ist auch schnell gefunden: Weltrekordler Godfrey Bowen, der 1953 in neun Stunden 456 Schafe scheren konnte. Bowen macht das Scheren zur Performance Art. Zu seinen Zuschauern zählen unter anderen die Queen, Nikita Chruschtschow sowie das amerikanische Fernsehpublikum.
Auch Japan und die Besucher der Weltausstellung sind begeistert, als Bowen mit 19 verschiedenen, in Neuseeland populären Schafsarten in Osaka anreist und seine Sheep Show präsentiert. Als der Nationalheld in die Heimat zurückkehrt, entscheidet er sich, seine Show fortzuführen, und baut zusammen mit einem Geschäftspartner den Agrodome auf.
Ostfriesische Vierlinge
Die Nachbarschaft zur Touristenstadt Rotorua mit seinen vielen Thermalbädern und Seen sichern dem Familienbetrieb die Kundschaft. Das Geschäft läuft, und das seit 35 Jahren. Kaum ein Tourbus, der durch die neuseeländische Nordinsel kutschiert, lässt den Agrodome links liegen. Besonders Asiaten lieben die Show. Sie machen ungefähr zwei Drittel der 350.000 Zuschauer aus, die sich jährlich das Schafstheater anschauen. Wie das "Multilingual"-Übersetzungssystem im hölzernen Auditorium verrät, kommen aber auch
Franzosen, Spanier und Deutsche.
Die Letzteren müssen sich dann auch durch Handzeichen zu erkennen geben, als nach Reggaekönig Bob ein eher konservativ frisierter Ostfriese auf das Podest hoppelt. Die "East Friesians" seien erst in den neunziger Jahren in Neuseeland eingeführt worden, erfahren wir. Besonders im Vergleich zu Schafsarten wie dem New Zealand Romney, die über die Hälfte ausmachten, sei die Anzahl der Ostfriesen auf Neuseelands Wiesen noch äußerst gering. Doch zeichneten sie sich durch ihre "high fertility", ihre hohe Fruchtbarkeit, aus und wären stark im Kommen. "Zwillinge, Drillinge, ja sogar Vierlinge" würden manchmal geboren, ein Hinweis, der auch im asiatischen Teil des Publikums mit erstaunten "Oh" und "Ah" sowie temperamentvollem Kopfnicken zur Kenntnis genommen wird.
Derjenige, der uns das alles erzählt, ist Mike. Als Showmaster und Agrodome-Animateur ist er der einzige Zweibeiner auf der Bühne und derjenige, der die Besonderheiten aller 19 Schafsgattungen erklärt. Verglichen mit Bilderbuch-Schafsscherer Bowen erscheint er eher wie eine Mischung aus Thomas Gottschalk und einem Hells-Angel-Motorradrocker. Doch sein Muscle Shirt stellt sich als unter Schaffriseuren gängige Kluft heraus, und der Kommentar ist seit Bowens Sheep-Show-Premiere in Japan fast unverändert, versichert ein Agrodome-Manager.
Prinz soll unters Messer
Doch der Superstar der Show ist weder Muskelshirt-Mike, Bob Marley noch der Ostfriese, sondern ein Widder der Sorte Merino, den unser Entertainer mit dem Satz: "Dies ist Prinz, der König aller Gattungen" vorstellt. Mit hoheitsvollen, gerundeten Hörnern bewaffnet und in üppiger Wolle gepolstert, thront er gemütlich und ganz oben auf dem pyramidenartigen Podest. Seine feine, weiche Wolle macht ihn zum Objekt der Begierde der Modeindustrie. Auch das Publikum ist hingerissen und hat den Prinzen kurzerhand für das folgende Schauscheren auserkoren. Laut Abstimmung soll er unters Messer. Doch Mike lässt im letzten Moment Gnade walten. Schließlich wäre das Majestätsbeleidigung. Stattdessen muss ein Romney ran.
Mit ein paar Ringergriffen und Druck auf die Reflexzonen des Schafes dreht und wendet er das zappelnde Vieh, bis es zahm wie ein Teddybär zwischen seinen Beinen sitzt. Jetzt sei Fingerspitzengefühl gefragt, ruft er in sein Mikrofon, das wie bei einem Call-Center-Angestellten an seiner Ohrmuschel klemmt. Die Qualität des Scherens bestimme größtenteils den Wert des Schafsfells. Außerdem dürften drei Körperteile - Ohren, Milchproduktion und Reproduktion - nicht zu Schaden kommen, und schon fährt er mit der surrenden Schermaschine schwungvoll über den Bauch des Tiers.
Fellstücke so groß wie Bettvorleger fallen zu Boden, und in weniger als einer Minute steht das Opfer nackt und vor Kälte zitternd vor ihm. Aber keine Angst, sagt Mike, als spüre er, dass sich im Publikum ein wenig Mitleid für das entblößte Tier regt. Die Fettproduktion der Hautdrüsen laufe jetzt an und verdoppele in den nächsten 24 Stunden die Dicke der Haut. So bleibe das Schaf trotz Verlust seines Wollmantels warm.
Mike dagegen wird sich von diesem einen "shearing job" keinen Pelz leisten können. Der Lohn für das Scheren eines Schafs liegt zurzeit bei 1,20 Neuseeland-Dollar (etwa 0,70 Euro). Doch Neuseelands Schafsscherer haben genug zu tun. Schließlich grasen etwa 41 Millionen Schafe auf heimischen Weiden, eine Ziffer, die die Bewohneranzahl um mehr als das Zehnfache übertrifft. Im Durchschnitt entkleiden Schafscherer pro Tag 300 bis 400 Tiere. Wer den aktuellen Weltrekord knacken möchte, muss aber mindestens doppelt so schnell sein. Denn der liegt bei 720 Schafen in neun Stunden. Eine Zahl, die auch Bowens damaliges
Glanzstück blass aussehen lässt.
Überhaupt hat sich seit Bowens Pionierzeit im Agrodome einiges getan. Ein paar der vierbeinigen Showstars mussten ihren Platz auf dem Podium an Neulinge abtreten. Ihre Gattungen hatten über die Jahre an Popularität eingebüßt. "Trends wie der stärkere Kunstfasergebrauch im Textilhandel oder die zunehmend fettarme Ernährung der Menschen haben in der Schafswirtschaft deutliche Spuren hinterlassen", sagt John McGowan, einer der leitenden Agrodome-Manager. "Daraufhin haben auch wir unsere Besetzung geändert".
Schafstournee durch Übersee
Außerdem reisen einige Showschafe seit den Achtzigern mit Gastspielen durch Übersee, und da diese Tourneen so viel Erfolg hatten, wurde auch eine ständige Auslandsvertretung eröffnet. In Tokio, steht seit 1996 ein 1600 Sitze großer Zwilling des Agrodomes. Aber auch abseits des Bühnenlebens gab es Erneuerungen. Drehte sich früher alles um das Schaf, können Besucher der neuseeländischen Hauptfiliale jetzt auf einer Farmtour Kiwiplantagen besichtigen sowie Vogelsträuße, Schweine und Lamas füttern. Wer dagegen den Adrenalinstoß sucht, kann sich im Extremsportpark an einem Gummiband aus 42 Meter Höhe in die Tiefe stürzen.
Doch trotz des ganzen Rummels auf der 160 Hektar Farm, kommen die meisten Leute der Schafe wegen. Einige hoffen sogar, eins zu ersteigern, als Mike zur Schafsauktion lädt. Wer sich bewegt, bietet, heißt die Devise. Ein Anweisung, die einige Zuschauer erstarren lässt, während andere wie angestachelt munter drauf los wackeln. Wie bei einem Hochgeschwindigkeits-HipHop-Gesangswettbewerb sprudeln Mike die Preise aus dem Mund. Höher und höher.
Zum ersten, zum zweiten, zum dritten. Eine Japanerin, die sich im Endspurt des Feilschens am Scheitel kratzt, macht das Rennen. Mit der seriösen Miene eines Auktionshändlers zitiert Mike die etwas hilflos wirkende Touristin auf die Bühne. Kurzer Händedruck, kurze Gratulation, doch stellt sich schnell raus: Ihr mangelt es an Geld, ihm an Schafen. Es kommt zur Schlichtung, und sie wird mit einem Schokoladenschaf in der Hand von der Bühne entlassen.
Nach einem Wettmelken von Kühen bilden die Tricks der Hirtenhunde den Abschluss des Schafstheater, und man wünschte James Cook hätte diese Show erleben dürfen. Dann hätte der englische Entdecker vielleicht ein glücklicheres Händchen mit den Schafen bewiesen. Eine Tafel im Wellingtoner Museum of New Zealand weist darauf hin, dass er 1773 bei seinem zweiten Besuch einige der Grasfresser an Bord seines Schiffes mit nach Neuseeland gebracht hätte. Doch seien sie ihm schon drei Tage später verstorben.