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Zukunftsforschung: Orientierung im Ungewissen

Der Mensch wollte schon immer mehr über die Zukunft wissen. Foto: Fotolia

Von Neli Mihaylova

Sie liefen und liefen, kilometerweit, den Berg hinauf - um zu ihr zu gelangen. An jedem siebten Tag des Monats empfing Pythia, die Seherin der Orakelstätte von Delphi, die Pilger. Gott Apollon selbst, so glaubten die antiken Griechen, spreche aus dem Mund seiner Priesterin. Herrscher, Soldaten, einfache Menschen - sie alle waren im Tempel am Fuße des Berges Parnass gleich. Vereint durch den Wunsch, mehr über ihre Zukunft herauszufinden.


Kaum etwas von Bedeutung wurde in Griechenland zwischen dem 8. und 5. Jahrhundert vor Christus entschieden, ohne das Orakel von Delphi befragt zu haben. Die Weissagungen bestimmten über Kriegszüge, die Gründung neuer Kolonien und den Erlass von Gesetzen. Aber auch in Privatangelegenheiten, etwa vor wichtigen Reisen, geschäftlichen Unternehmungen oder Eheschließungen suchte man in Delphi den Rat der Seherin.


Der Wunsch, die Zukunft vorauszusagen, ist vielleicht so alt wie die Menschheit selbst. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen befasste man sich damit. Davon zeugen zahlreiche schriftlich erhaltene Prophezeiungen aus verschiedenen Epochen der menschlichen Geschichte.


Zukunftsvorstellungen haben sich mit der Zeit gewandelt

Allerdings: „Die Zukunftsvorstellungen haben sich mit der Zeit gewandelt", erklärt der Physiker, Philosoph und Zukunftsforscher Dr. Karlheinz Steinmüller von der Freien Universität Berlin. Bis zum Zeitalter der Aufklärung lebten die Menschen in einem nahezu stationären Umfeld, in dem die Zukunft der Vergangenheit ähnelte. Erst nach 1700 entstand die lineare Vorstellung der künftigen Zeit als etwas, das sich qualitativ von der Gegenwart unterscheidet.


Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den USA, in Mittel- und Westeuropa die modernen Industriegesellschaften entstanden, wurde die Zukunft gestalt- und planbarer. Fortschritte der Technologie und Medizin führten dazu, dass sich die Menschen nicht mehr der Macht der Natur oder der Götter ausgeliefert fühlten. Sie konnten ihre Zukunft selbst bestimmen. Die spekulativen Mittel, diese vorauszusagen, wichen ersten wissenschaftlichen Versuchen, das Ungewisse einzuordnen.


Im Zweiten Weltkrieg stieg der Bedarf an strategischer Zukunftsplanung enorm. Die moderne Zukunftsforschung hat ihren Ursprung in der interdisziplinären Arbeit zahlreicher Wissenschaftler, die für das britische und amerikanische Militär tätig waren. Natur-, Ingenieur-, Sozial- und Geisteswissenschaftler entwickelten in den Kriegsjahren in enger Zusammenarbeit Militärstrategien.


Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in den USA mehrere staatlich geförderten Denkfabriken gegründet, die diese interdisziplinäre Zusammenarbeit für die Entwicklung von Zukunftsprojekten in den Bereichen Medizin, Psychologie, Soziologie oder Unternehmensmanagement einsetzten.


Die moderne Zukunftsforschung befasse sich nicht mit Vorhersagen und Prognosen, betont Dr. Robert Gaßner vom Berliner Büro für Zukunftsforschung und Zielbildung. Vielmehr stehen im Fokus der Wissenschaftler die möglichen und wünschbaren Zukünfte: „Wir denken in Alternativen und fragen uns: Was könnte alles auf uns zukommen? Welche Varianten sind denkbar und wünschenswert? Und was können wir tun, um sie zu verwirklichen?"


Die Ergebnisse der Zukunftsforschung werden oft in Wenn-dann-Aussagen präsentiert. Die Forscher entwickeln Zukunftsmodelle, die sich je nach Zusammensetzung der Ursprungsparameter unterscheiden. Die verschiedenen Klima-Szenarien des Weltklimarats sind ein Beispiel dafür. Katastrophen-Szenarien sind dabei als Frühwarnsystem zu betrachten. Sie können die Entscheidungsträger dazu bewegen, das Eintreffen dieser Szenarien zu verhindern. So hat die 1972 publizierte Studie „Die Grenzen des Wachstums", die auf die Knappheit der Ressourcen und die wachsenden Umweltprobleme auf der Erde hinweist, zahlreiche Politiker weltweit dazu bewegt, sich ernsthaft mit dem Thema Nachhaltigkeit zu beschäftigen.


Neben der Erstellung von Szenarien und der Befragung von Experten, gehören die sogenannten Zukunftswerkstätten zu den originären Methoden der Zukunftsforscher. Gaßner hat vor Kurzem eine solche Veranstaltung moderiert. Daran nahmen drei Kommunen teil, in denen sich abgeschaltete Atomkraftwerke befinden. „Das waren Städte, die früher vergleichsweise reich waren und über zahlreiche Arbeitsplätze verfügten", erzählt Gaßner. Seit der Abschaltung stecken sie allerdings in einer Krise und wissen nicht genau, in welche Richtung sie sich entwickeln sollten. Gaßner half ihnen dabei, positive Zukunftsvisionen zu erarbeiten und konkrete Schritte für deren Verwirklichung zu planen.


Vielfältige Einsatzgebiete
  

Diese Veranstaltung ist ein Beispiel dafür, wie vielfältig die Einsatzgebiete der Zukunftsforscher sind. Das Themenspektrum reicht von Technikentwicklung über Bevölkerungsentwicklung und Konfliktforschung bis hin zu Wirtschaftswachstum, Ökologie und internationalen Beziehungen.


Eine Schwäche der Zukunftsforschung liegt in der schwierigen Überprüfbarkeit der Ergebnisse: „Wir können unsere Aussagen über eine mögliche Entwicklung in der Zukunft nicht sofort verifizieren", erläutert der Biochemiker und Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Axel Zweck von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.


Hinzu kommen weitere Schwierigkeiten, wie die selbstzerstörende Prophezeiung. Zukunftsforschung wird häufig betrieben, um auf problematische Entwicklungen hinzuweisen. Wenn Zukunftsforscher auf eine solche Entwicklung aufmerksam machen, werden im positiven Falle Schritte unternommen, damit diese unerwünschte Zukunft gar nicht stattfindet.


„In der Öffentlichkeit wird häufig behauptet, dass Zukunftsforscher immer wieder falsche Prognosen abgeben. Fragt man nach, werden aber fast immer Prognosen von Experten genannt, die nicht in der Zukunftsforschung tätig sind", schildert Steinmüller. Die modernen Zukunftsforscher machen keine Prognosen mehr, sondern schildern nur mögliche Szenarien, die den betroffenen Akteuren helfen sollen, sich besser zu orientieren. Falsche Vorhersagen sind deshalb nicht das Problem, eher schon blinde Flecken: „Mit wenigen Ausnahmen hat vor 1989 die Mehrheit der Zukunftsforscher die Möglichkeit der Implosion des Ostblocks nicht gesehen. Und bis vor wenigen Jahren wurde die Bedeutung der Religion systematisch unterschätzt", erzählt Steinmüller.


Strategische Entscheidungen

Die Bedeutung der Zukunftsforschung wächst. „Heutzutage werden immer mehr strategische, langfristige Entscheidungen getroffen. Und um diese Entscheidungen etwas leichter zu machen, sind die Ergebnisse der Zukunftsforschung hilfreich", sagt Zweck. „Die Globalisierung des Wirtschaftslebens, globale, regionale und lokale Umweltprobleme, sich verschärfende soziale Konflikte, neue internationale Konfliktkonstellationen und rasante technologische Innovationsschübe erzeugen auf jeder Ebene einen enormen Reformdruck und damit einen hohen Bedarf an Orientierungswissen", meint Steinmüller.


Politische Institutionen in Deutschland lassen sich deswegen zu vielen Themen von Zukunftsforschern beraten. So hat der Bundestag zu einigen zentralen Zukunftsthemen Enquete-Kommissionen eingerichtet - Arbeitsgruppen, deren Aufgabe ist, langfristige Fragestellungen fachübergreifend zu bearbeiten. „Die Zukunftsforschung wird in Deutschland immer öfter berücksichtigt. Einige Länder- und Bundesministerien haben bereits „Zukunftskommissionen" eingerichtet", erklärt Gaßner. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung führt seit den 90er-Jahren kontinuierlich große strategische Prozesse zur Technologievorausschau durch, die Entscheidungsgrundlagen für die aktuelle Forschungs- und Innovationspolitik liefern sollen.


Auch in den einzelnen Bundesländern kommen die Forscher immer öfter zum Einsatz, etwa in der „Kommission Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen" in Baden-Württemberg, der „Kommission Mensch und Technik" in Nordrhein-Westfalen oder der „Denkfabrik Schleswig-Holstein".


Die Zukunft ist nicht vorhersehbar, darin sind sich die Forscher einig. „Und sie bleibt auch nach unserer Forschung unberechenbar", sagt Zweck. „Aber wir verringern Ungewissheiten durch Aufzeigen möglicher Entwicklungen und ihrer Konsequenzen über den rein gegenwartsbezogenen Faktencheck hinaus."

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