"The Tribe" hat bereits diverse Preise abgeräumt und bei den Filmfestspielen von Cannes für Furore gesorgt. Nach einigen Kurzfilmen hat der Regisseur Myroslav Slaboshpytskiy seinen ersten Spielfilm gedreht, der in der Ukraine sogleich für den Oskar gehandelt wurde. Der Film verzichtet vollkommen auf Dialoge oder Untertitel und wurde mit gehörlosen Laiendarstellern gedreht. Tatsächlich braucht man Dialoge nicht fürs Verständnis. Die Geschichte ist recht einfach.
Sergej ist ein Neuankömmling in einem ukrainischen Kinderheim für Gehörlose. Zunächst wird er ausgegrenzt und gemobbt, doch er steigt schnell ein in die kleinkriminellen Machenschaften der Kinderheim-Gang. Raubüberfälle, Prostitution, Schlägereien – damit verdienen sich die Jugendlichen die eine oder andere Kopijka. Als Sergej sich in die Freundin des Anführers Anja verliebt, deren Aufgabe es ist, sich nachts auf einem LKW-Rastplatz für die Fahrer zu prostituieren, bekommt er richtige Probleme.
Viele Kritiker haben besonders die graphischen Szenen des Films als sehr mutig gelobt. So lässt in einer besonders langen Szene ein junges Mädchen in einem schäbigen Badezimmer mit ein paar Metallgegenständen eine Abtreibung ohne Narkose über sich ergehen – meine Sitznachbarin im Kino war da schon eingeschlafen. Die mit einem Regal zertrümmerten Köpfe hat sie somit verpasst. Das ist ein wütender Film, ein brutaler Film, der eine herzlose Welt zeichnet. In diesem Kinderheim, das, wie viele mutmaßen, parabelartig für die gesamte Ukraine stehen kann, gibt es keine echte Zuneigung. Selbst die Leidenschaft, die Sergej für Anja empfindet, hat etwas Animalisches, es ist ein tierisches und gewalttätiges Verlangen, keine echte Zärtlichkeit.
Einerseits begnügt sich Slaboshpytskiy nicht damit, die gehörlosen Jugendlichen aus dem Heim als bloße Opfer zu zeigen. Doch er spricht ihnen auch jede Menschlichkeit ab. Hier gilt das Recht des Stärkeren und es macht niemandem wirklich etwas aus, dem anderen den Kopf zu zermatschen. Dass manche Kritiker von der Ausdrucksstärke dieses Films und seiner Darsteller entzückt waren, mutet seltsam voyeuristisch an. Viele werden den Film unangenehm provokant finden, andere wiederum ein wichtiges Thema angesprochen sehen. Vermutlich werden beide Recht behalten.
Text: Natalia Sadovnik
(SZENE Hamburg Filmfest-Blog)
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