In Zeiten des Selbstdarstellungswahns gehört Autor Florian Werner zu einer bedrohten Art.
Der Raum liegt im Halbdunkel. Sein Gesicht glüht. Peinlich ist ihm das. Doch an diesem Abend ist das Erröten egal: Die Hälfte des Publikums ist mindestens genauso schüchtern wie er selbst. Dienstagabend in einem Studio der Tanzschule Gutmann in Freiburg. 30 Zuschauer sitzen in einem großen Saal auf Schemeln und schauen auf den Schriftsteller. Florian Werner liest aus seinem neuen Buch "Schüchtern: Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft". Eine Herausforderung für ihn, denn er ist menschenscheu. Das kann spannend werden. Er atmet tief durch: Er klingt wie ein Orkan, der durchs Studio fegt. Werner hat vergessen, dass das Headset schon eingeschaltet ist. Er wird schon wieder rot. Dabei hatte seine Gesichtsfarbe gerade einen helleren Ton angenommen.
Er wagt es kaum, Spam-Emails zu ignorieren
Der gebürtige Berliner hat Anglistik, Amerikanistik und Germanistik studiert und mit einer Arbeit über Hip Hop und Apokalypse promoviert. Obwohl er schüchtern ist, arbeitet er als Texter und Musiker in der Gruppe Fön. Außerdem arbeitet er als Autor. Sein Buch "Die Kuh" wurde in mehrere Sprachen übersetzt und von der Zeitschrift Bild der Wissenschaft als originellstes Wissenschaftsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2011 erschien sein Buch "Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße". 2012 wandte er sich schließlich der Schüchternheit zu.
Kühe, Scheiße, Schüchternheit: Er hat ein Faible für abseitige Themen. In seinem Buch preist Werner die Vorteile von Kapuzenpullis, beschreibt, wie er seine Frau kennenlernte, erklärt, warum er gegenüber unverschämten Kellnern zwanghaft höflich bleibt und beichtet, dass es ihm schwer fällt, Spam-Emails nicht höflich zu beantworten.
Anekdoten kommen dabei nicht zu kurz. Eine der besten:
Klein-Florian im Walddorfkindergarten. Er soll pantomimisch seine aktuelle Stimmungslage darstellen. Das ist einfach: Er wünscht sich seine Ruhe. Also beginnt er, Streichbewegungen auszuführen.
Die Betreuerin ist entzückt, glaubt die Lösung zu kennen: - Ah, du malst ein schönes Seelenbild, nicht wahr Florian? - Ich baue eine Mauer und bestreiche sie mit Stahl. Betretenes Schweigen. Ein Aufbäumen von Seiten der Erzieherin. - Florian, Stahl kann man nicht streichen. - Doch, wenn er glüht. Und wenn er dann kalt wird, kommt niemand mehr durch. Florian Werner sitzt an diesem Abend mitten im Publikum. Dass die Schemel um ihn herum so chaotisch angeordnet sind, ist Absicht. Die Zuschauer sollen leicht miteinander in Kontakt treten können. Small Talk, und so. Zwei Frauen vor Beginn der Lesung. Eine Versuchsanordnung: - Uhh. Kühl hier drin. Finden Sie auch, dass es ein bisschen zieht? - Ich glaube, das ist die Klimaanlage.
Ach ja. Das könnte sein. Schweigen. Ein kurzer Small Talk. Ein gemeinsames Ziel muss her. - Man kann die Anlage bestimmt runter drehen. Wer ist denn hierfür zuständig? - Ich denke, die Dame dort hinten. Winken in Richtung der Dame. Die Mitarbeiterin des Tanzstudios nähert sich. - Entschuldigen Sie, meinen Sie, Sie könnten die Klimaanlage vielleicht etwas herunterdrehen. Uns ist ein wenig kühl hier drin. Dame vom Tanzstudio lächelnd. - Das kann ich gerne machen. Aber wenn Sie später tanzen wollen, wird es schnell warm werden.
Die beiden Frauen schauen erschrocken aus. Tanzen? Stimmt ja. Auf dem Flyer stand was von kontraphobischem Tanzen. Nachdenkliche Stille, der Small Talk ist beendet. Die Mitarbeiterin zieht ratlos von dannen und dreht die Klimaanlage herunter.
Tanzstudios sind für schüchterne Menschen Orte des Grauens. Genauso wie Karaokebars. Das wusste Autor Florian Werner ganz genau. Deswegen findet die Lesung auch hier statt. Er will später noch auflegen und alle sollen abhotten. "Konfrontiere dich mit deiner Angst", sagt er und schaut einzelne Zuschauer an. Und dann: "Ich hasse diesen Satz, aber er steht in jedem Ratgeber."
Warum er diesen Satz verabscheut, liest er aus seinem Buch vor. Über den Versuch, sich an Tipps aus Schüchternheitsratgebern zu halten. Er tippte dazu eine beliebige Nummer ins Telefon, um mit einem fremden Menschen ein fünfminütiges sinnloses Gespräch zu führen. Und das lief so: "Ich rufe bei Ihnen an, um aus therapeutischen Gründen ein fünfminütiges sinnloses Gespräch zu führen." "Aber net hier an meim Telefooo", sagte eine schwäbisch eingefärbte Stimme am anderen Ende der Leitung, bevor sie den Hörer aufknallte. Ende der Anekdote.
Seitdem will Werner niemanden mehr anrufen. Vor allem keine Schwaben. Dass es trotzdem zu einem Interviewtermin mit ihm kam, war wohl allein der Tatsache geschuldet, dass er mit der Zeitungsredakteurin per SMS kommunizierte.
Zurück zum kontraphobischen Tanzen. Die Furcht, die der Gedanke an gemeinsames Tanzen - mit anderen Menschen - auslösen kann, ist Florian Werner durchaus vertraut: Mit Horror erinnert er sich an seinen eigenen Tanzkurs. Als er sich damals endlich ein Herz fasste und ein Mädchen aufforderte, zeigte diese quer über die Tanzfläche. Werners Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger und blieb an einem jungen Mann hängen, der dort selbstbewusst am Tresen lehnte. "Ich tanz schon mit dem dort", sagte das Mädchen. Werner schaute in das grinsende Gesicht seines Zwillingsbruders.
Ja, ganz recht. Werner hat einen Zwilling. Und zwar einen, der sämtliche Schüchternheit-ist-genetische-veranlagt-Argumente ad absurdum führt. Trotzdem - oder gerade deshalb - hat Werner ihm das Buch gewidmet. "Aber warum?", fragt ein Zuschauer. "Aus einer komplizierten psychischen Gemengelage heraus", sagt Werner und grinst schief.
Die Geschichte nimmt sich folgendermaßen aus: Werners Mutter liegt im Krankenhaus bei der Entbindung. Es kommt zu einem Kaiserschnitt. Der diensthabende Arzt zieht einen kleinen Jungen aus ihrem Bauch und will gerade die Bauchdecke schließen, als er etwas entdeckt: noch einen Jungen! "Man hat mich praktisch beim Nachgeburtausschaben entdeckt", sagt Florian Werner trocken. Das Publikum johlt, hört gar nicht mehr auf.
Auch wenn die Lesung stark auf Anekdoten setzt, geht Florian Werner in seinem Buch der Frage nach, wo Ursachen und Auswirkungen von Schüchternheit liegen. Dabei kommt er zu folgendem Schluss: Auch wenn wir in einer Selbstdarstellungsgesellschaft leben, die Schar der Schüchternen ist größer als man denkt.
Beinahe vergaßen sie ihn im Bauch seiner Mutter
Beispiele gefällig? Jim Morrison, der charismatische Sänger der Doors, war so schüchtern, dass er bei den ersten Auftritten seiner Band dem Publikum den Rücken zuwandte. Marilyn Monroe, das Sexsymbol schlechthin, litt zeitlebens unter Selbstzweifeln. Charakterdarsteller Robert de Niro mag noch so oft den abgebrühten Schurken, Mafiaboss oder Boxer gespielt haben, im wahren Leben bekommt er bei Interviews den Mund nicht auf.
Umfragen zufolge schätzt sich auch jeder zehnte Deutsche als schüchtern ein. Woran liegt das? "Das Problem ist, dass wir es als solches bezeichnen. Dass wir Schüchternheit pathologisieren", sagt Florian Werner. "Haben Sie jemals einen Ratgeber mit dem Titel 'Selbstbewusst - Was jetzt?' im Regal stehen sehen oder 'Schüchtern in zehn Tagen?'", fragt Werner. Nein. Deswegen nun das Buch - ein Pamphlet für die Menschenscheu.
Er hat ja Recht: Während sich der Steinzeitmensch noch vor Mammuts fürchtete, hat der Mensch heute eben Angst davor, sich vor anderen zu blamieren. Angst schützt. Soll heißen: Es gab Zeiten, in denen es durchaus sinnvoll war, vor dem Säbelzahntiger zu flüchten. Menschen, die das verstanden, lebten definitiv länger. Gut, der eine oder andere mag argumentieren, dass das Leben an Intensität gewinnt, wenn ein Säbelzahntiger hinter einem herrennt. Doch ein Großteil der vernunftbegabten Menschen wird zustimmen, dass dies kein erstrebenswerter Zustand ist.
Apropos Angstvermeidung: Es ist Zeit für kontraphobisches Tanzen. Am Rand stehen Grüppchen und unterhalten sich. Es herrscht dieselbe aufgekratzte Stimmung wie bei den ersten Schuldiskos. Schließlich trauen sich die Ersten: Zaghaft wippt der rechte Fuß, Strähnen werden aus dem Gesicht gestrichen, ein Lächeln an die Mitstreiterinnen gesandt und schließlich wild gestrampelt und gehüpft.
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