Nadine Zeller

Wissenschaftsjournalistin, Freiburg

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Mikroorganismen zersetzen sogar Kunststoff

Sie sind klitzeklein und für das menschliche Auge unsichtbar - Mikroorganismen wie Bakterien, Pilze und Algen. Japanische Forscher haben ein Bakterium entdeckt, das Kunststoff zersetzt.


Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass Mikroorganismen in der Lage sind, Erdöl abzubauen und die Teilung von Krebszellen zu verhindern. Lösen Bakterien, gerade solche aus dem Meer, also unser Müllproblem, halten sie die Ozeane sauber und heilen uns womöglich eines Tages?


Medizin, Umweltwissenschaften, Krebsforschung - egal wo man hinschaut, momentan herrscht Goldgräberstimmung unter Mikrobenforschern. Der Bremer Mikrobiologe Frank Oliver Glöckner spricht schneller, wenn er vom Potenzial der Unterwasserwelt erzählt. "In einem Milliliter Meerwasser tummeln sich bis zu einer Million Bakterien. Im Ozean gibt es Mikroorganismen seit Milliarden von Jahren. Da sind Bakterien und Algen dabei, die können Sachen, die wir nicht mal zu träumen wagen."


Forscher suchten Gensequenzen in Mikroben


Anfang 2012 startete er mit anderen Forschern - Bioinformatikern, Biologen, Ozeanografen und Ethikern - das von der EU getragene "The Ocean of Tomorrow"-Projekt "Micro B3". Vier Jahre lang sammelte das Team Mikroben an verschiedenen Stellen im Meer und suchte darin nach Gensequenzen, die für die Biotechnologie interessant sein könnten.

Dass Forscher sich erst in jüngster Zeit dem Ozean zuwenden, hat einen Grund. Mitte der Neunzigerjahre etablierten sich Methoden wie Genanalyse und Gensequenzierung, die es erlaubten, die DNA der Mikroben zu erfassen. Bis dahin züchteten Wissenschaftler die Kleinstlebewesen unter Laborbedingungen und beobachteten sie - ein langwieriges Verfahren, das oft unbefriedigende Ergebnisse brachte. Heute ermöglicht der technische Fortschritt ein gezielteres Vorgehen.


Enzyme helfen beim Verdauen


Fest steht schon jetzt: Meeresmikroben weisen eine extreme Vielfalt auf. Sie sind enorm anpassungsfähig und haben im Laufe der Jahrtausende sehr ausdifferenzierte Überlebensmechanismen entwickelt. Sie halten hohen Druck aus, können unter extremen Temperaturen überleben und kommen in Gewässern mit unterschiedlichsten Säurewerten und Salzgehalten vor. Das macht ihre Enzyme so vielseitig. "Im Laufe der vergangenen vier Milliarden Jahre sind Mikroorganismen mit so ungefähr allem fertig geworden, was sie bedroht. Ihre Enzyme haben also viel Erfahrung damit, verschiedenste Substanzen und auch Gifte zu spalten und Nahrung zu zerkleinern. Das macht sie so wertvoll für die Biotechnologie", sagt Glöckner.


Doch warum interessieren sich die Forscher ausgerechnet für die Enzyme? Enzyme spalten große Nahrungsmoleküle auf und helfen dem Körper damit, sie zu verdauen. Gleichzeitig entfernen sie Abfallstoffe aus dem Organismus und halten das Immunsystem von Mikroorganismen, Menschen und Tieren gesund. "Die Enzyme mariner Mikroorganismen sind deshalb so spannend, weil sie Stoffe spalten können, die bisher bekannte Enzyme nicht kleinkriegen", erklärt Glöckner.


Forscher versuchen Enzym mit antibiotischem Wirkstoff künstlich herzustellen


Ein Beispiel: Greifen Bakterien das Immunsystem des Menschen an, helfen Bakterien auf und in unserem Körper dabei, andere, unerwünschte Bakterien abzutöten. Dazu stellen sie auch Antibiotika her. Pharmafirmen begannen in den Dreißigerjahren, diese Wirkstoffe künstlich herzustellen und retteten damit viele Menschenleben. In den vergangenen Jahren entwickelten jedoch immer mehr Bakterien Resistenzen wegen des intensiven Antibiotikaeinsatzes etwa in Kliniken.


Experten sprechen bereits vom postantibiotischen Zeitalter und sehen eine Krankheitswelle auf uns zurollen, die wir ohne neue Antibiotika nicht eindämmen können. Aus diesem Grund versuchen Forscher weltweit, neue Wirkstoffe zu finden. So auch Glöckner und sein Team, die bereits Erfolge vorweisen können. Ihre Analyse unterschiedlicher Mikroben aus dem Meer förderte ein vielversprechendes Bakterium zutage, das auf einem marinen Schwamm lebt und dessen Enzym einen antibiotischen Wirkstoff produziert. Jetzt versuchen die Forscher, diesen künstlich herzustellen. Zunächst soll das Bakterium in Aquakulturen zum Einsatz kommen. Auch wenn es 15 Jahre dauern kann, bis daraus ein marktfähiges Medikament entsteht, ist die Aussicht auf neue Antibiotika Antrieb genug.


Auch bei Knochentransplantationen helfen Lebewesen aus dem Meer. Der Mainzer Molekularbiologe Werner Müller beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit maritimen Schwämmen. Es sind mit die ältesten Lebewesen der Welt, auch wenn es sich nicht um Mikroorganismen, sondern um Tiere handelt. "Schwämme existieren seit 650 Millionen Jahren. Unser menschliches Skelett hat sich aus dem des Schwammes heraus gebildet. Deshalb haben wir genau hingeschaut, wie bestimmte Schwämme ihr Skelett bilden. Und haben dabei ein Enzym entdeckt, das den menschlichen Knochen aufbauen kann", berichtet Müller.


Mit der Entdeckung eines speziellen Phosphataseenzyms haben er und sein Team die Medizintechnik einen Schritt weitergebracht. Müller glaubt, dass es in zwei Jahren möglich sein wird, Zahnprothesen aus je eigenem Knochenmaterial herzustellen und in rund fünf Jahren, Knochenimplantate einzusetzen, die eigenständig weiterwachsen. Dazu werden das Polyphosphat und amorphe Mikropartikelchen zunächst in die vom Patienten benötigte Knochenform gebracht und dann in den menschlichen Körper eingesetzt. Dort programmiert das Polyphosphat die Knochenzellen um und bewegt sie dazu, mehr Knochenmaterial als üblich herzustellen. Selbst schwerwiegende Knochenschäden könnten auf diese Weise schneller heilen.


Bakterien brauchen sechs Wochen, um ein hauchdünnes PET-Filmchen abzubauen

Die Erfolgsgeschichte der marinen Mikroben kennt kein Ende: Erst kürzlich landeten japanische Wissenschaftler vom Kyoto Institute of Technology einen Coup, als sie ein Bakterium im Meer entdeckten, das PET-Flaschen abbauen kann.

Ideonella sakaiensis produziert zwei Enzyme, die sich die Arbeit teilen: Das erste verlässt das Bakterium und heftet sich an die Oberfläche der PET-Flaschen, zerkleinert sie und schleust das Plastikmaterial ins Bakterium. Dort wartet das zweite Enzym bereits darauf, das vorgespaltene Kunststofffutter in noch kleinere Teile zu zerstückeln und abzubauen.

Der deutsche Biotechnologe Uwe Bornscheuer vom Institut für Biochemie in Greifswald sieht in diesem Bakterium große Chancen: "Den Kunststoff PET gibt es erst seit 70 Jahren, aber trotzdem hat diese kurze Zeitspanne für eine Spezialisierung dieses Bakteriums auf PET ausgereicht. Das ist ungewöhnlich, weil Enzyme meist verschiedene Aufgaben erfüllen." Gleichzeitig dämpft er zu hohe Erwartungen, was die Lösung des weltweiten Müllproblems betrifft. Denn die Bakterien bräuchten sechs Wochen, um ein hauchdünnes PET-Filmchen abzubauen.


Forscher wollen Ruf der Mikroorganismen retten


Ein weiteres Ziel der Forscher ist, den Ruf der Mikroorganismen zu retten. Bakterien können eben beides sein: Krankheitserreger und Hoffnungsträger. Laut Glöckner sind 18 000 Naturstoffe bekannt, die in oder an Meereslebewesen entdeckt wurden und jetzt dem Menschen helfen. "Bei einer Million Bakterien pro Milliliter Meerwasser gibt es noch einiges zu entdecken", sagt Glöckner. Die geeigneten Methoden dafür gibt es heute.

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Autor: Nadine Zeller

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