Auf der Flucht. Ulrich holt draußen Wasser für seine Familie, die im Keller eines Hauses wartet. Ein russischer Soldat klopft ihm mit einer Waffe auf die Schulter. "Hey, hands up! Wo Frau?" Ulrich muss ihn in den Keller bringen, wo neben seiner Familie 40 weitere Vertriebene Rückzug suchen.
"Man hörte sie nur im anderen Raum schreien."
Russische Soldaten fallen nacheinander über ein fünfzehnjähriges Mädchen her. "Man hörte sie nur im anderen Raum schreien. Das war die erste Vergewaltigung", sagt Ulrich. Er sitzt auf seinem Bett, in seiner linken Hand knetet er ein benutztes Taschentuch. Seine Füße baumeln in der Luft, schlagen durch die Parkinsonerkrankung unentwegt gegen die Bettkante. Das Taschentuch fällt. Er guckt dem fallenden Taschentuch hinterher, bis es den Boden erreicht.
Dann wendet er seinen Blick vom Boden ab, schaut nach oben und erzählt vom nächsten Morgen.
Totes Fleisch überall auf den Straßen. Fleisch von Tieren - und von Menschen. Der Krieg rückt immer näher. Dann treffen sie auf russische Soldaten. Sie entdecken das Baby, seinen Bruder, nur ein halbes Jahr alt. Die Russen geben ihnen eine Kuh, damit der Säugling Milch hat. "Das waren liebe Menschen." Sie stellen ihnen sogar eine Unterkunft zur Verfügung. Einen Rückzugsort zum Kochen und Ausruhen. Sie schieben den Wagen in die Scheune. Am nächsten Tag ist er leergeräumt: "Die Russen sind wie der liebe Gott, sie geben und nehmen."
Genommen wird ihm auch die Stiefmutter. Russische Soldaten sperren ihn und seine Geschwister in einen Keller. Die Stiefmutter wird von Soldaten verschleppt. „Wir haben sie nie wieder gesehen." Sie wurde wohl nach Russland gebracht, wie fast eine Millionen weiterer Frauen - zur Zwangsarbeit. Später erfährt der Vater, dass sie totgeschlagen wurde. Warum kann Ulrich bis heute nicht beantworten.
Brüderschaft
Er ist jetzt mit seinem Bruder allein für seine Geschwister verantwortlich. Essen stehlen, um zu überleben. Am Eingang einer Flachsfabrik (Flachs = Nutzpflanze, aus deren Fasern man Öl gewinnt) hängt ein Kreuz aus Holz und eine selbstgebastelte Strohpuppe mit Strick um den Hals. Sie trägt ein Schild mit der Aufschrift: "Wer hier einbricht, dem ergeht es genauso wie dieser Puppe!"
Sie schauen sich einen Moment lang an. Stille. Es braucht keine Worte.
Dann gehen sie rein. Sie haben ein Fahrrad dabei, ein altes Rad, das sie gefunden haben. Auf dem Holzboden liegt ein vergilbter Leinensack, gefüllt mit Samen. Helmut hält den Sack und steckt ihn zwischen die Speichen des Fahrrads. Ulrich dreht das Rad, bis der Sack zerreißt und sie an die Leinsamen kommen. Sie erbeuten so vier Liter Öl für die Familie. Irgendwie überleben. Helmut und Ulrich sind auf das Stehlen angewiesen. Sie müssen ihre Familie ernähren. Egal wie.
Die Leute, die sich von der Puppe haben abschrecken lassen, mussten sterben. "Deshalb sitze ich heute noch hier. Man kann nichts verkehrt machen, die Alternative wäre nur der Tod gewesen."
Das Nest ist leer
Heute sitzt Ulrich auf seinem Bett. Er sagt, er hätte sich nie vorstellen können, mal 86 Jahre alt zu werden.
Er lacht kurz auf. Es sind fast siebzig Jahre vergangen. Was früher war, kann er sich kaum noch vorstellen. "Bloß wenn man einmal ins Erzählen kommt, dann kommt einiges wieder hoch." Schlechte Gedanken an früher oder gar Hass - sowas hat er nicht. Nur manchmal, sagt er, kratze noch ein Gewehr auf dem Bauch herum, dann schreie man ganz kräftig auf und dann schläft man weiter.
Als junger Mann ist er als Kumpel unter Tage. Sein Bruder immer dabei. Bohrungen im Stollen verursachen Erschütterungen. Die Decke bricht über seinem Bruder zusammen. Dunkelheit. Staub. Helmut liegt unter einem Kohlenbrocken. Er hat sich seine Arme und Beine verletzt.
"Mein Bruder und ich waren eigentlich immer unzertrennlich", erinnert er sich.
Zwei Kumpel aus Berlin versuchen, ihn zu befreien. Der Kohlenbrocken ist zu schwer. Sie müssen handeln und zerschlagen den Brocken mit Kohlenhämmern, "Jaja, macht ruhig weiter, haut mir das Ding in den Hintern, dann bin ich wenigstens ganz kaputt", flucht Helmut.
Ulrich grinst bei dem Gedanken an seinen Humor.
Sie schaffen es, ihn zu befreien. Es fängt an von der Decke zu krümeln. "Wenn es anfängt zu krümeln, dann dauert es nicht mehr lange und die nächste Masse kommt hinterher", sagt einer der Berliner Kumpel, "das fehlt uns auch noch, dass wir jetzt auch da drunter kommen."
"So schnell hab ich nicht gucken können, wie der andere Berliner aufstand, zu ihm ging und ihm eine schlug. ´Du erbärmlicher Hund, wenn du da liegen würdest, würdest du das auch sagen?´"
Ulrich gluckst laut auf. Dann ändert sich seine Mine, er denkt an seinen Bruder, der vor zehn Jahren gestorben ist. Ulrich lebt heute noch in Bochum. Das siebte Jahr im Seniorenheim. Den Krieg hat er überlebt. Er hat für seine Geschwister gesorgt, geheiratet, zwei Söhne großgezogen, drei Enkel und sechs Urenkel aufwachsen sehen. Tod und Leben - Liebe und Verlust - nah beieinander. Seine Mutter, die Stiefmutter, sein Bruder, sein Vater. Seine Frau starb vor sechs Jahren. Krebs. Heute ist er selbst ein kranker Mann. Seine Kinder sind überall verstreut, ausgeflogen. Er schaut wieder aus dem Fenster. Das Nest ist leer.
Autorinnen: Jasmin Kunst und Nadine Sander