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Geschichtsunterricht mit einer Zeitzeugin

NS-Opfer las im Kölner Lessing-Gymnasium

Anita Lasker-Wallfisch berichtete den Oberstufenschülern von ihren Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs.

VON NADINE CARSTENS

Die meisten Schüler lernen Geschichte nur aus Schulbüchern oder Fernsehdokumentationen. Die Schüler der Jahrgangsstufen 12 und 13 des Zündorfer Lessing-Gymnasiums in Köln hatten jetzt die seltene Gelegenheit, die Schilderung der historischen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs von einer Person zu hören, die die Geschehnisse selbst als Gefangene erlebt hat: Anita Lasker-Wallfisch gehört zu den rund 150 Überlebenden von Auschwitz und las in der Schulbibliothek aus ihrem Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“, das 1996 erschienen ist.

 „Mit einem Einzelschicksal kann man sich unter Umständen besser identifizieren“, sagte die Zeitzeugin. Lasker-Wallfisch war ungefähr im selben Alter wie ihre jungen Zuhörer, als ihre Mutter und ihr jüdischer Vater 1942 deportiert und ermordet wurden. Die damals 16-Jährige und ihre jüngere Schwester Renate wurden gezwungen in einer Papierfabrik zu arbeiten.  Auch „um die eigene Würde zu wahren“, wie Lasker-Wallfisch es formulierte, leisteten sie unter Lebensgefahr Widerstand gegen die Nationalsozialisten, indem sie Juden, Polen und französischen Kriegsgefangenen mit gefälschten Pässen zur Flucht verhalfen. Als die Schwestern 1943 selbst auf die gleiche Art entkommen wollten, wurden sie kurz darauf bei ihrem Fluchtversuch von der Gestapo verhaftet und wegen Urkundenfälschung zur Zuchthausstrafe verurteilt. Anita wurde von ihrer Schwester getrennt und nach Auschwitz ins Konzentrationslager deportiert.

 Als sich herausstellte, dass sie Cello spielte, wurde sie gezwungen sich dem Lagerorchester anzuschließen. „Die Musik rettete mir vorerst mein Leben, denn das Häftlingsorchester war noch im Aufbau und es fehlte jemand, der Cello spielen konnte“, schilderte Lasker-Wallfisch, „im Gegensatz zu den Gefangenen, die Steine schleppen mussten, waren wir Musiker nicht austauschbar.“ Im Gefangenenlager traf sie sogar ihre Schwester Renate wieder, die zu einem späteren Zeitpunkt nach Auschwitz deportiert worden war. Die beiden gehörten zu den wenigen Insassen, die das Vernichtungslager überlebten: „Ich dachte, dass wir wie all die hunderttausenden Gefangenen in Gaskammern ermordet werden und Auschwitz nur durch den Schornstein verlassen würden“, sagte Lasker-Wallfisch. 1944 wurden die Schwestern nach Bergen-Belsen in ein anderes Konzentrationslager verlegt, wo sie am 15. April 1945 von britischen Truppen befreit wurden.

Appell an die Schüler

Seit 1994 hält die 83-Jährige, die seit ihrer Befreiung in England lebt, Vorträge und Lesungen über ihre dramatischen Erlebnisse während des Holocausts und macht insbesondere Halt in deutschen Schulen. Nüchtern und doch mitreißend erzählte sie von ihren Wahrnehmungen aus der Zeit zwischen dem Kriegsausbruch und der Befreiung durch die Alliierten. Ihre Beschreibungen hinterließen einen tiefen Eindruck bei den Schülern, die der Autorin gebannt zuhörten. Im Anschluss an ihren Vortrag appellierte sie an die jungen Besucher: „Sie haben als Europäer eine besondere Aufgabe: Sie müssen nicht nur die Erinnerung wahren, sondern auch lernen und lehren, was damals an Rassismus und Antisemitismus stattfand. Wir sind alle füreinander verantwortlich – Hass ist ein Gift, es zerstört die Umwelt.“

 Am Ende stellte sich die Autorin und Musikerin, die das Londoner „English Chamber Orchestra“ mitbegründete, den Fragen der Oberstufenschüler. Diese wollten unter anderem wissen, ob sie sich trotz ihrer Biografie noch als Deutsche fühle. „Ich bin als Deutsche geboren und habe einen englischen Pass, aber ich bin weder deutsch noch englisch“, antwortete Lasker-Wallfisch. „Ich sage mir immer »ich bin einfach ich«, man muss Menschen nicht immer Etiketten geben.“