Jontes Augen huschen über den Bildschirm. Sein Oberkörper ist nach vorne geneigt, sodass sein grauer Rundschal leicht freihängt. Mit dem Daumen scrollt er über Spalten an Tabellen und Spielerprofilen: „Ich schicke dir gleich die Trainerbilanz. Dann musst du nur noch Füllkrug hinzufügen“, sagt er 14-Jährige mehr in seinen Bildschirm hinein als zu seinem Kollegen. Jonte will in seinem Schülerpraktikum beim SV Werder Bremen herausfinden, wie Ole Werners Bilanz gegen Dortmund bisher war. Aber dafür bleibt heute kaum mehr Zeit.
Jonte zieht sein Handy aus der Hosentasche und erweckt es mit einem Doppelklick zum Leben. 15:40 Uhr. „Wäre es okay, wenn ich jetzt schon gehe? Die Tabelle mache ich dann zu Hause fertig“, fragt er einen Mitarbeiter. „Klar, kannst das auch morgen noch machen! Wo geht es hin?“ bekommt er zurück. Jonte stößt sich vom Tisch weg, federt mit den Händen an den Rädern den Schwung ab und dreht sich nach links. Mit einer weiteren Bewegung zieht er das Handbike zum Rollstuhl ran und klingt die Räder ein. „Ich habe doch gleich Rugby“, sagt der 14-Jährige.
Jontes Weg in den Alltag ist die Geschichte über einen jungen Teenager, der es geschafft hat, eine Krankheit anzunehmen, die sein Leben versucht hat, völlig ausbremsen. Früher, so erzählt es Jonte, hat er Rad fahren und Fußball spielen geliebt. Das ging lange noch gut, obwohl er schon im Kindergarten immer weniger Kraft in den Händen hatte. Flaschen öffnen fiel immer schwerer. Denn Jonte hat eine seltene Muskelkrankheit. Im Frühjahr vor zwei Jahren kippte er plötzlich mit dem Rad um und konnte nicht mehr laufen. Seine Mutter musste ihn fortan überall hintragen, bis er wenig später einen Rollstuhl bekam. Doch weder zu Hause noch in der Schule waren sie auf einen Rollstuhl vorbereitet.
Die schreckliche Zeit in der Reha
In der Schülerzeitung hat Jonte seine Geschichte erzählt. Nach der Klassenfahrt musste er in Reha, aber dort „war es schrecklich“, schreibt er. Er sei nicht ernstgenommen worden. Die Ärzte sagten, er solle sich schonen. Er brauche viel Ruhe, aber Jonte hat daheim einfach weiter trainiert - trotz der starken Schmerzen, die er bis heute noch hat.
In der Sporthalle von Achim riecht es nach siebter Stunde Sportunterricht. Die Luft steht. Jonte zieht sich einen zweiten Rollstuhl für das anstehende Rugby-Match ran. Der Rollstuhl ist breiter, die Räder sind schräg gestellt, damit der Rollstuhl nicht so leicht umkippt. Vorsichtig steht Jonte auf und schiebt sich nach vorne. Seine Hände führt er unterstützend vom einen zum anderen Rollstuhl mit. Jonte sitzt jetzt tiefer. Um seine dunkelblauen Nikes ist ein Metallgestell gespannt.
Er zieht sich Handschuhe an, deren Innenhandfläche aufgeraut ist, so wie bei Gartenhandschuhen. Jontes Mutter wickelt graues Duct-Tape um seine Handknöchel. Ein kurzer Check: Jetzt können sie nicht mehr verrutschen und dann rast Jonte auf das Spielfeld, wo die anderen Spielerinnen und Spieler schon warten.
Rollstuhlrugby: auch eine Frage der Finanzierung
Rugby ist ein teures Hobby. Sponsoren werden dringend gesucht. Auswärtsfahrten nach Leipzig, geplatzte Reifen und der extra Rollstuhl – das ist teuer. „Allein der Rollstuhl kostet neun- bis elftausend Euro“, sagt die alleinerziehende Mutter von Jonte und seinen beiden Geschwistern. Die Krankenkassen bräuchten ewig und führten erst interne Befragungen durch, ob nicht doch noch ein Rollstuhl frei sei, bevor sie ihn genehmigen. Und das, obwohl 2021 allein 7,8 Millionen Menschen in Deutschland mit einer Behinderung leben.
„Oh scheiße“, ruft Jontes Mutter und springt mit einer anderen Frau zeitgleich auf. Das Rugby-Spiel ist unterbrochen. Ein Rollstuhl liegt auf der Seite. Um ihn haben sich die anderen Spielerinnen und Spieler versammelt. „Oh, Bjarne. Ich habe gar nicht gemerkt, dass mein Sohn da liegt“, sagt eine Frau am Spielfeldrand leicht grinsend zu einer anderen Zuschauerin. Die beiden Frauen auf dem Spielfeld richten währenddessen den Stuhl mitsamt Bjarne wieder auf. „Alles gut, es kann weiter gehen“, gibt er entwarnend an sein Team zurück.
Bjarne ist 13 Jahre, sitzt seit seiner Geburt im Rollstuhl und hat Jonte 2018 bei einem Inklusionsfotoshooting kennengelernt. Als die beiden sich vier Jahre später bei einem Spiel ihres Lieblingsvereins Werder Bremen wieder gesehen haben, saß auch Jonte im Rollstuhl. „Ich war erst geschockt“, erinnert sich der 13-Jährige. „Und dann habe ich ihn mit zum Rollstuhl-Rugby mitgenommen.“
Jonte fängt einen Ball ab und dreht sich suchend nach einem Mitspieler um. Keiner ist frei. Er legt den Ball auf seinen Schoß und schiebt den Rollstuhl mir beiden Händen kraftvoll an. Plötzlich kommt Elias, ein Gegenspieler, mit voller Geschwindigkeit auf ihn zu. Metall knallt auf Metall. Reifen quietschen. Jonte kommt abrupt zum Stehen. Sein Oberkörper kippt nach vorne. Blitzschnell umfasst er mit rechts den Ball und dreht sich mit links nach hinten weg. „Du musst schauen, wer da kommt“, schreit Jontes Trainer über das Spielfeld. „Und jetzt auf. Habe keine Angst vor ihm!“
Ein möglicher Weg in die Nationalmannschaft?
Elias ist drei Jahre älter als Jonte und spielt seit Kurzem für die deutsche Nationalmannschaft. Für Jonte ist ein Duell mit ihm daher besonders reizend: „Klar, ist das cool, dass einer aus der Nationalmannschaft hier mitspielt“, sagt er. Aber Angst habe er schon auch, wenn Elias wie eben mit Vollspeed auf ihn zufährt. „Dafür habe ich aber mehr Spielverständnis als er.“ Das sieht auch sein Trainer Nacer Menezla so: „Jonte braucht einfach noch ein bisschen mehr Kraft und muss seine Angst verlieren, dann spielt der in ein paar Jahren auch in der Nationalmannschaft."
Jonte meint, der Sport helfe ihm. Er habe dabei zwar immer noch starke Schmerzen, aber während des Spiels sei es aushaltbar. Ob die Nationalmannschaft sein Ziel ist, darüber ist er sich noch nicht sicher, aber abgeklärt wie ein Profi fügt er hinzu: „Auf irgendetwas arbeitet man ja immer hin.“
von Moritz Mayer